Erinnerung verorten:

Einführung in das Konzept

der »Erinnerungsorte«

Wie begegnet uns Geschichte heute? – In den letzten Jahrzehnten sind sehr viele Publikationen erschienen, die sich mit Erinnerungsorten  beschäftigen: zunächst mit französischen, dann mit deutschen oder europäischen und jüngst auch mit deutsch-polnischen. Der folgende Beitrag stellt das aufschlussreiche Konzept solcher »Erinnerungsorte« vor und will dabei verdeutlichen, dass es über das umgangssprachliche Verständnis von »Orten der Erinnerung« im Sinne von individuellen Haftpunkten der eigenen Lebensgeschichte oder von Gedenkstätten hinausreicht und für unser Verständnis der Geschichte eine Reihe von Vorteilen bietet. – Damit eröffnet Der Westpreuße zugleich eine neue (unregelmäßige) Folge von Artikeln, die zukünftig west­preußische Erinnerungsorte zur Diskussion stellen werden.

Von Annelie Kürsten

Geschichte, Erinnerung und Gedächtnis bilden zentrale Arbeitsfelder der kulturwissenschaftlichen Forschung. In diesem Rahmen wurde auch das Konzept der sogenannten Erinnerungs- oder Gedächtnisorte etabliert, das »Orte« umschreibt, an denen die »Erinnerung kristallisiert und Zuflucht sucht« (Pierre Nora) – Orte sowohl im topographischen wie im metaphorischen Sinn. (Einige zentrale Aussagen, auf die sich diese Darstellung bezieht, sind als Blockzitate dem Aufsatz beigefügt, damit den Leserinnen und Lesern ein tieferer Einblick in die konkreten Definitionen und Erkenntnisabsichten der Historiker ermöglicht wird.)

 

Damit zielt das Konzept auf eine erweiterte Form der Geschichtsbetrachtung, die genauer untersucht, wie Erinnern und Erinnerungsarbeit kulturell funktionieren, wie sie eine gemeinsame, kollektive Identität zu stiften vermögen. Hierbei geht es nicht primär um realhistorische Sachverhalte, um das, was »tatsächlich« geschehen ist, sondern um die Bestimmung von symbolischen Dimensionen, die sich öffentlich wie privat zum Beispiel im Umfeld von staatlichen Feiern und Gedenktagen, von Festen oder Alltagsbrauchtum feststellen lassen. Die Überlegung zu den Erinnerungsorten führt auf diesem Wege zu der wichtigen Unterscheidung zwischen den Feldern einer »wissenschaftlichen Geschichte« der Fakten und kausalen Zusammenhänge sowie einer »gelebten Geschichte« bzw. den Erinnerungsleistungen einzelner Personen, Gruppen oder ganzer Gesellschaften. »Erinnerungsorte« lassen sich folglich mit Pierre Nora als »Phänomene des Übergangs« beschreiben: sie bilden eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der jeweiligen Gegenwart, in der etwas erinnert wird; gerade dann, wenn sich die lebendigen Erinnerungs- und Erzählgemeinschaften auflösen, dienen sie zunehmend als »Stützen der Erinnerung« (Aleida Assmann).

 

Auf dieser Grundlage finden Forscher verschiedener Disziplinen vielfältige Anknüpfungspunkte, um anhand ganz unterschiedlicher Phänomene die »Topographie der Geschichte in der alltäglichen Lebenswelt« (Jörn Rüsen / Friedrich Jaeger) zu untersuchen. Auch wenn die Kultur und Geschichte des östlichen ­Europa bei der Entwicklung des Konzepts selbst zunächst keine Rolle gespielt hat, sind in den letzten Jahren doch umfangreiche Publikationen erschienen, die den theoretischen Ansatz produktiv umsetzen und beispielsweise »Schlesische Erinnerungsorte« (2005) oder auch »Deutsch-polnische Erinnerungsorte« (5 Bände, 2012–2015) aufarbeiten; letzteres bemerkenswerter Weise in Form einer transkulturellen Beziehungsgeschichte, die die nationalen und konfessionellen Schichtungen – und Konflikte – berücksichtigt und damit verdeutlicht, dass bestimmte Erinnerungsorte gleich für mehrere Erinnerungsgemeinschaften relevant sind und in unterschiedlichen Erinnerungskontexten oftmals auch sehr verschiedenartig gedeutet werden können.

 

Unter diesen Voraussetzungen lässt sich nun weiter fragen, wie sich derartige Erinnerungsorte im speziellen Zusammenhang mit Westpreußen gestalten: Wie wird »westpreußische« Geschichte sinnlich gelebt? Welche historischen und erfahrungsgeschichtlichen Akzente werden kollektiv gesetzt? (Dabei ist zudem stets im Auge zu behalten, dass, wie gerade schon angedeutet,  »westpreußische« Erinne­rungsorte auch von der Erinnerungskultur anderer Gruppen oder Nationen beansprucht werden können oder – wie beispielsweise bei dem Komplex Flucht und Vertreibung – von übergreifenden Geschichten, Erfahrungen und Erinnerungsmustern mitbestimmt werden.)

 

Für eine genauere Betrachtung bieten sich ganz unterschiedliche Phänomene an, die als gruppenspezifische westpreußische Erinnerungsorte lesbar werden können:

 

• Daten und Ereignisse der Geschichte, die eine regionale, nationale oder auch europäische Bedeutung haben wie z. B. 1410 (die »Schlacht von Tannenberg«), 1920 (die Umsetzung des Versailler Vertrags), 1945 (der Beginn von Flucht und Vertreibung) oder 1989 (der Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft);

 

• kulturell mehrfach kodierte Städte wie z. B. Danzig/Gdańsk oder Thorn/Toruń;

 

• Denkmäler und Gedenkstätten wie die Dirschauer Brücke oder das Westpreußenkreuz, aber auch die Westerplatte oder Stutthof/Sztutowo;

 

• Persönlichkeiten wie Nikolaus Kopernikus, Arthur Schopenhauer, Emil von Bering oder Günter Grass;

 

• lebensweltlich geprägte kulturelle Erscheinungsformen wie Ess- und Trinkgewohnheiten (die »Thorner Kathrinchen« oder das »Danziger Goldwasser«), spezifische Lieder oder Tänze (vom »Westpreußenlied« bis zu kaschubischen Folkloretänzen); und nicht zuletzt

 

• erinnerungskulturelle Topoi wie der »Klang der Heimatglocken« oder Geschichten von Jugenderinnerungen, Verlusterfahrungen, Überlebensstrategien oder erfolgreichem Neubeginn.

 

All diese Phänomene sind über große Zeitspannen hinweg als Erinnerungsorte ausgeformt und kollektiv stabilisiert worden – wobei hier die Funktion und Bedeutung von fördernden, institutionalisierten Kommunikatoren und »Verstärkern« (wie die Landsmannschaft, das Westpreußische Landesmuseum, Zeitungen wie »Unser Danzig« oder »Der Westpreuße«) schwerlich unterschätzt werden dürfen.

 

Die Chancen dieser Fragestellung, die hier zunächst nur angerissen werden konnte, werden sich gewiss noch deutlicher zeigen, wenn das Konzept in dieser Zeitung demnächst an einzelnen der genannten Erinnerungsorte konkret durchgespielt wird.

 

Erschienen in Heft 5/2016  

 

 

 

Danzig (Adobe Stock) Danzig (Adobe Stock)
Kompass (Adobe Stock) Galerie (Adobe Stock)
Historisierende Collage (Adobe Stock) Wahlprognosen und Stimmzettel (Adobe Stock)

Etienne François /
Hagen Schulze

Deutsche Erinnerungs­orte. Bd. I, München 2001, S. 17f.:

 

»Erinnerungsorte können ebenso materieller wie immaterieller Natur sein, zu ihnen gehören etwa reale wie mythische Gestalten und Ereignisse, Gebäude und Denkmäler, Institutionen und Begriffe, Bücher und Kunstwerke – im heutigen Sprachgebrauch ließe sich von ›Ikonen‹ sprechen. Erinnerungsorte sind sie nicht dank ihrer materiellen Gegenständlichkeit, sondern wegen ihrer symbolischen Funktion. Es handelt sich um langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert.«

Jörn Rüsen / Friedrich Jaeger

Zum Konzept der Erinnerungsorte, in: Jörn Rüsen, Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen gestern und morgen, Köln 2006, S. 85:

 

»Geschichte wird unmittelbar sichtbar, hörbar, greifbar, mit allen Sinnen erlebbar. […] Das Konzept der Erinnerungs- und Gedächtnisorte hat sich in den letzten Jahren als […] erhellend erwiesen, weil mit seiner Hilfe die Geschichte auf neue Weise zum Sprechen gebracht werden konnte, und dies […] auch kritisch und in reflexiver Distanz.«

Hans Henning Hahn /
Robert Traba

Deutsch-polnische Erinnerungsorte, Bd. 1,  Paderborn 2015, S. 20:

 

»Erinnerungsorte können sowohl real­historische als auch imaginierte ›historische Phänomene‹ sein: sowohl Ereignisse und topographische Orte als auch (imaginierte und reale) Gestalten, Artefakte, Symbole und Ereignisse. Den Historiker interessiert dabei die identitätsrelevante Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart – in der jeweiligen Gegenwart, denn erforscht wird mithilfe der Erinnerungskultur von heute. Es gilt also, die Erinnerung – oder noch genauer: das Erinnern – zu historisieren.

Es genügt nicht, Erinnerungsorte zu beschreiben. Um ihre Identitätsrelevanz überhaupt zu erkennen, müssen sie immer auf ihre diesbezügliche Funktion hin untersucht werden.«