Vor 100 Jahren – Das Ende von Westpreußen (3)

 

Die „Vierteilung“ der Provinz Westpreußen nach dem Ersten Weltkrieg — Danzig und Westpreußen in der Politik der Siegermächte

 

Von Lutz Oberdörfer

 

Zur Ausgangslage

 

Im Verlauf  des Weltkrieges zeichneten sich im östlichen Europa dramatische Veränderungen der Verhältnisse ab, die bis zu dessen Ausbruch durch die Dominanz dreier Großreiche als integraler Bestandteil der europäischen „balance of power“ bestimmt waren :  Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn. Auch für das dreigeteilte Polen – Jochen Böhler hat gerade im Westpreußen dazu geschrieben – boten sich neue Möglichkeiten, deren konkrete Umsetzung allerdings von der Entwicklung der Lage an den Fronten und den Kräfte- wie Interessen­verhältnissen am Ende des Großen Krieges abhing. Aus Raumgründen kann hier nur auf das Lager der Entente-Mächte kurz eingegangen werden. Weil Großbritannien und Frankreich das dominierende russische Interesse in der Region anerkannten, richteten die polnischen National­demokraten ihre Bemühungen zunächst vor allem auf die Führung in Petrograd, wobei sie auf die herausragende Bedeutung der Gewinnung von Danzig und Thorn verwiesen. Zwar zeigte sich Russland unter der wachsenden Last des Krieges gegenüber der Idee eines Königreiches Polen aufgeschlossen, wenn auch unter einer nicht verhandelbaren Bedingung :  Polen musste sich eng an das Zarenreich anlehnen und mit der Krone der Romanows verbunden bleiben. Gegenüber polnischen Wünschen nach West- und Ostpreußen reagierten russische Diplomaten eher unverbindlich. Allerdings, die Regierungen in Paris und Petrograd verständigten sich im März 1917 insgeheim darauf, dass Russland nach dem Krieg die weitreichenden französischen Ziele bis zum Rhein unterstützen werde. Frankreich sicherte seinerseits dem Bündnispartner freie Hand für seine weitreichenden Territorialziele im Westen zu und bestätigte Russlands Entscheidungsrecht in der polnischen Frage. Anders als beim ebenfalls geheimen Sykes-Picot-Sasonow-Abkommen von 1916 zur Aufteilung des Osmanischen Reiches oder dem Londoner Vertrag über den Preis des italienischen Kriegseintritts war London nicht beteiligt.

Offiziell schlossen sich Großbritannien und seine Entente-Partner dem Postulat des Ende 1916 knapp wiedergewählten amerikanischen Präsidenten Wilson an, nach dem das „Selbstbestimmungsrecht“ aller Völker Grundlage für einen Friedensschluss sein sollte. Ihre Zustimmung fand auch Wilsons Vorstoß von Anfang 1917 für ein „einiges, unabhängiges und autonomes Polen“.

Schon Mitte 1916 hatte sich das britische Kabinett intern darauf verständigt, dass zur Schaffung der gewünschten stabilen Nachkriegsordnung das „Nationalitätenprinzip einen der bestimmenden Faktoren“ für Territorialentscheidungen darstelle. Es dürfe aber – wenn irgend möglich – nie so weit getrieben werden, „dass daraus wahrscheinliche Gefahren für den zukünftigen Frieden Europas entstehen könnten“. Als Hauptaufgabe der britischen Diplomatie galt die Maxime, die Entstehung neuer Gefahrenherde (danger spots) „vom Elsass-Lothringen Typ“ zu vermeiden. Zu leicht könnte daraus in nicht zu ferner Zukunft der Funke für einen neuen Krieg (im Osten) schlagen, der dann wahrscheinlich auch England und sein Empire mit verheerenden Folgen in einen zweiten gewaltigen Waffengang hineinziehen würde. Diese Position bestimmte auch die Haltung zur Problematik eines Seezugangs für ein autonomes bzw. (später) unabhängiges Polen. Allerdings genoss diese Frage bei den weltweit engagierten angelsächsischen Mächten keine große Priorität. Weder Amerikaner noch Briten hielten entsprechende Forderungen für ein vitales Kriegsziel. Im britischen Kabinett dominerte die Auffassung, dass „die Briten“ nicht bereit wären, für einen direkten polnischen Seezugang zu kämpfen und es schon allein deshalb unklug wäre, dieses zum britischen Kriegsziel zu erklären. In diesem Sinne hatte Premier Lloyd George am 5. Januar 1918 in seiner „Kriegs­ziele Rede“ erklärt, dass sein Land keine vertraglichen Verpflichtungen übernommen habe, aber dem Grundsatz eines unabhängigen und vereinten Polens zustimme. In seiner 14-Punkte-Erklärung einige Tage später befürwortete der amerikanische Präsident die „Errichtung“ eines unab­hängigen polnischen Staates mit einem freien und sicheren Zugang zum Meer. Verständlicherweise zeigten sich polnische Vertreter wie Paderewski darüber irritiert, dass Wilson an dieser Stelle das Wort „muss“ (must) im Entwurf durch „sollte“ (should) ersetzt hatte.

 

Zwischen dem Ausscheiden Russlands aus dem Krieg und der Pariser Friedenskonferenz

 

Perspektiven und Postulate

Die skizzierte Situation änderte sich radikal mit dem Sieg der Bolschewisten im Oktober 1917 und dem Ausscheiden Russlands aus dem Krieg. Wenn auch der Krieg im Lager der Entente und der assoziierten USA bis in den Sommer 1918 hinein als noch lange nicht vor seinem Ende stehend gesehen wurde :  Die zukünftige Rolle eines unabhängigen Polens in Europa einschließlich seiner Grenzen kam nun auf die Tagesordnung der Westmächte. Die damit verbundenen Möglichkeiten vor Augen, intensivierten polnische Vertreter massiv ihre Anstrengungen in den alliierten Hauptstädten. Da die Wiederherstellung polnischer Staatlichkeit bei einer Niederlage der Mittelmächte nun gesichert schien, konzentrierten sie sich auf die zukünftigen Grenzen. Alle polnischen politischen Gruppierungen waren sich trotz vielfältiger Konflikte untereinander zumindest in der Forderung einig, dass der angestrebte starke und territorial ausgedehnte polnische Staat einen eigenen und weiten Zugang zur Ostsee mit Danzig als Haupthafen haben müsse. Die Wünsche der ansässigen Bewohner waren diesem Ziel unterzuordnen.

Schnell wurde deutlich, dass die Westmächte zwar im grundsätzlichen Ziel der Schaffung einer stabilen Nachkriegsordnung übereinstimmten, es über das Wie aber unterschiedliche Auffassungen gab. Stark verallgemeinert :  Washington und London wollten, dass Deutschland einen sehr hohen Preis für den Krieg bezahlen müsse. Im Interesse eines funktionsfähigen internationalen Gleichgewichts und des Wiederaufbaus Europas sollte Deutschland schrittweise in eine liberal-kapitalistische Nachkriegsordnung eingebunden werden. In einem stabilen und prospe­rierenden Umfeld könnten später „legitime Forderungen“ der wieder erstarkten Mächte Deutschland und Russland berücksichtigt werden, ohne dabei das europäische Gleichgewicht völlig zu zerstören. Frankreich hingegen strebte die Rolle der kontinentalen Führungsmacht an, befürwortete die maximale und dauerhafte Schwächung Deutschlands einschließlich großer Gebietsverluste im Westen und Osten und sah in Polen den Ersatz für Russland als östlichen Grundpfeiler seines Allianzsystems. Deshalb unterstützte Frankreich auch weitreichende polnische Territorialforderungen, die im Osten die Grenzen des multinationalen Polen-Litauen vor der ersten Teilung als Grundlage nahmen und im Westen über diese hinausgingen. Häufig akzeptierte Paris den Primat historischer und strategischer Argumente ;  jedenfalls dann, wenn es für Frankreich nützlich erschien. Dem polnischen National­komitee unter Roman Dmowski versicherte Clemenceau sogar öffentlich, dass Frankreich nach dem Sieg über Deutschland alles in seiner Macht stehende zur Wiederher­stellung eines freien, unabhängigen und mächtigen Polen auf der Grundlage der polnischen Territorialvorstellungen tun werde. Dazu zählte ausdrücklich der direkte Zugang zur Ostsee über Danzig. Ein Memorandum des Quai d’Orsay vom Dezember 1918 betonte in diesem Zusammenhang auch, dass eine umfangreiche territoriale Expansion Polens auf deutsche Kosten eine wünschenswerte Garantie für eine deutsch-polnische Dauerfeindschaft darstelle. Auf diese Weise blieb Polen auf französischen Goodwill angewiesen.

Völlig ausschließen mochte Paris eine bloße Internatio­nalisierung der Weichsel und polnische Freihafenrechte in Danzig intern aber nicht. Jede Suche nach einer Paketlösung schloss ein Geben und Nehmen ein.

Auch Briten und Amerikaner sahen mittelosteuropäische Fragen primär durch die Brille ihrer Deutschland- und Russlandpolitik. Anders als viele in der französischen oder gar in der polnischen Führung hielten sie es für völlig unvermeidlich, dass früher oder später beide wieder Vormächte der Region sein würden. Stabile Verhältnisse in Mittelost- / Osteuropa wären dann nur noch mit, aber nicht gegen sie möglich. Allein vom Potenzial her bliebe Polen ihnen deutlich unterlegen.

Rasch mussten die von ungezählten Lobbyisten bedrängten Hauptsiegermächte – schon im Vorfeld der Friedens­konferenz – erkennen, dass die Durchsetzung gerechter Lösungen nur schwer realisierbar war. Denn was eine Seite als gerecht betrachtete, bewertete eine andere schnell als ungerecht. Das galt von der Danzig-Westpreußen-Problematik über Dalmatien bis zum Gebiet um Smyrna. Hinzu kam, es gab keine von allen Interessenten akzep­tierten Statistiken zur nationalen Zusammensetzung in den vielen umstrittenen Gebieten, dafür umso mehr solche, die jeweilige Positionen untermauern sollten. Gleichzeitig wurden zur Unterstreichung eigener Ansprüche auch strategische und ökonomische sowie historische Argumente beigebracht. Zu letzteren gehörten Berechnungen wie die nationale Zusammensetzung ohne vorangegangene Germanisierung, Polonisierung, Russifizierung, Madja­risierung oder Italianisierung aktuell wäre. Letztlich vergeblich argumentierten vor allem Briten und Amerikaner in einer Mischung aus Überredung und Warnung gegenüber den so genannten Nachfolgestaaten, dass sie es sich im eigenen Sicherheitsinteresse überhaupt nicht leisten könnten, unversöhnlich auf Territorien zu bestehen, auf die zwei oder mehr Staaten kompromisslos Anspruch erhoben :  z. B. auf das Teschener Schlesien, das Wilna-Gebiet, Ostgalizien, Siebenbürgen, dalmatinische und istrische Gebiete, das Banat oder die Dobrudscha. Die zwangsweise daraus entstehenden instabilen Verhältnisse würden die dringend benötigten Investoren abschrecken und noch dazu eine spätere Revisionspolitik begünstigen.

Memoranden und Statistiken

In Vorbereitung der Friedenskonferenz ließ die britische Führung eine Reihe von Denkschriften erarbeiteten, die den bisherigen Meinungsbildungsprozess und die diesem zugrunde gelegten Fakten, Perzeptionen und Wertungen zusammenfassten und als eine Art von Grundlagenpapieren für die in Paris bevorstehenden komplizierten Verhandlungen angelegt waren. Von grundsätzlicher Bedeutung waren die Wiederherstellung und Sicherung eines stabilen Mächtegleichgewichts. Brisante Territorialfragen wurden fast ausschließlich im Osten erwartet. Nur „gerechte Abkommen“ versprachen Stabilität und Dauerhaftigkeit. Dazu zitierte die Denkschrift über Grundlagen der zu schaffenden Friedensordnung ausdrücklich Präsident Wilson mit den Worten :  „Wir müssen (auch) jenen gegenüber gerecht sein, gegenüber denen wir wünschten ungerecht zu sein.“ In der vom Außenministerium erarbeiteten „Polendenkschrift“ wurde die Bedeutung eines ethnografisch kompakten Polens bekräftigt. Die Umsetzung der viel weitergehenden Forderungen der Polen würde ihren Staat tendenziell schwächen „und seine Position unmöglich machen“. Wörtlich hieß es :

Falls die Friedenskonferenz größere Teile von Deutschen oder Russen bewohnten Landes oder Gebiete, deren Bewohner eine Union mit Russland oder Deutschland wünschen, an Polen übergibt, laufen wir das Risiko wieder jene Umstände zu beleben, die im 18. Jahrhundert zur Teilung Polens führten.

Sollte die nationale Einheit Deutschlands und Russlands gebrochen und ihre wichtigsten nationalen Interessen verletzt werden, dann „werden sie sich ohne Zweifel zusammentun“, um das ihnen in der Stunde ihrer Schwäche „aufgezwungene Unrecht“ wieder gut zu machen. Deshalb und um der sicheren Zukunft Polens willen müsste allen „überzogenen“ polnischen Forderungen mit Härte begegnet werden. Anders als etwa Senator William Borah, der die polnischen Forderungen zumindest in der Seeküstenfrage weitgehend unterstützte, teilte Wilsons Intimus Walter Lippmann die britischen Beweggründe. Für ihn war das von Frankreich unterstützte Streben nach einem Polen mit großen nationalen Minderheiten „ein gefährliches Stück Torheit“. Polen würde sich ohne klare Mäßigung seiner Territorialforderungen zu „einer Geisel des Glücks“ machen.

 Doch wie sollte Polens „Zugang zur (Ost)See“ gewährleistet werden ?  – Bis Ende 1918 befürworteten England und die USA eine garantierte Nutzung der Weichsel sowie einen polnischen Freihafen in Danzig. Es handelte sich im Kern um eine Lösung, wie Prag und Berlin sie nach einem Beschluss der Friedenskonferenz für die Tschechoslowakei akzeptierten und erfolgreich umsetzten :  Ungehinderte Nutzung von Elbe und Oder sowie Freihäfen in Hamburg und Stettin. Ähnliches sollte die deutsche Regierung im Frühjahr – wenn auch ergebnislos – Polen für die Oder und Stettin, die Weichsel und Danzig sowie den Pregel und Königsberg anbieten.

Da die große Mehrheit der Danziger wie auch das Gebiet östlich der Weichsel deutsch war und weil nach den vorliegenden Informationen sich alle politischen Gruppierungen in Deutschland darin einig waren, dass der Verlust dieser Gebiete völlig unannehmbar sei, wollte London (wie eine Mehrheit in der Washingtoner Administration) dieses so sprengmächtige heiße Eisen möglichst nicht anfassen :  Als Problem stellte sich auch heraus, dass es zwischen Riga, Libau, Memel, Königsberg und Danzig nicht einen möglichen Hafen mit wenigstens starker polnischer Minderheit gab. Ein Korridor durch Westpreußen wie die Übergabe „des rein deutschen Danzigs“ würde „wahrscheinlich die Position Polens unhaltbar machen, falls und wenn Deutschland sich wieder erholt hat“. In den Worten des stellvertretenden Außenministers Lord Cecil musste jede Abtrennung Ostpreußens durch einen wie immer gearteten Korridor unterbleiben, weil damit nur eine „nie heilende Wunde aufgerissen würde“.

Inzwischen benutzten die Verantwortlichen offensichtlich Daten, die nahelegten, dass sich „eine Zunge polnischen Landes“ links der Weichsel zur Ostsee erstreckte. Statt der als fingiert bewerteten deutschen Statistiken zur Bevölkerungsverteilung wurden jetzt offensichtlich polnische verwandt, die (wie Roger Moorhouse zeigen konnte) ähnlich fraglich waren. Kein Wunder, dass in der internationalen Presse unterschiedliche Einschätzungen über die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung kursierten. Die renommierte Current History ging davon aus, dass der deutsche Anteil der Bewohner Danzigs bei 95 % lag und westlich der Weichsel keine klaren Mehrheitsverhältnisse bestanden. Die ebenfalls renommierte New York Times bevorzugte polnische Angaben, die auf „privaten Untersuchungen“ beruhten. Demnach stellte die „gegenwärtige polnische Bevölkerung“ rund die Hälfte der Danziger. Ohne Einbeziehung der Garnison, der in Rüstungsbetrieben Beschäftigten sowie der Regierungs­beamten hätte Danzig eine klare polnische Mehrheit. Auffällig ist nicht nur für die New York Times, dass die Kaschuben, deren Anzahl in Westpreußen bei 200.000 lag, nicht einmal erwähnt werden. Die New York Times übernahm (wie auch andere Blätter) ebenfalls die polnische Auffassung von einer klaren Dominanz polnischer Bevölkerung im Danzig westlich umgebenden Territorium sowie in der südöstlichen Region bis zur russischen Grenze. Die Bewertung wurde geteilt, nach der Danzig als polnischer Seehafen stark prosperieren, unter deutscher Herrschaft hingegen bestenfalls stagnieren würde. Deutschland wäre im Besitz von Danzig jedoch in der Lage, Polen an den Rand des ökonomischen Ruins zu treiben.

Um auf die erwähnte britische Denkschrift vom Dezember 1918 zurückzukommen :  Weiterhin erschien weder die Übergabe Danzigs an Polen noch die Abtrennung Ostpreußens vom übrigen Deutschland politisch ratsam. Doch vielleicht könnte – und das war neu – der polnischen Forderung nach einem Hafen im Mündungsgebiet der Weichsel durch die Schaffung einer Enklave um Neufahrwasser „nicht weit weg von polnischem Gebiet“ zusammen mit den Kreisen Putzig und Neustadt genüge getan werden. Zusätzlich sollte Polen Garantien für die freie Nutzung der Weichsel und der Eisenbahn nach Süden bekommen. Im „Gegenzug“ müssten zur Sicherung einer Landverbindung zwischen Pommern und Ostpreußen aber „die polnischen Kreise Karthaus, Berent, Konitz und Stargard geopfert werden“.

Anders als Frankreich, aber ähnlich Großbritannien und Italien hatten die USA im Vorfeld der Friedenskonferenz über amtliche Verlautbarungen allgemeiner Art (wie Wilsons 14-Punkte-Erklärung) hinaus konkrete Zusagen gegenüber Polen vermieden. Trotz intensiver polnischer Lobbyarbeit blieb das Weiße Haus dabei, dass allein schon aus Gründen praktischer Politik der befürwortete Zugang zum Meer nur über die internationalisierte Weichsel und Freihafenrechte gesichert werden könne. Um eventuell noch bestehende Unsicherheiten auszuräumen, erklärte Wilson am 18. 12. 1918 gegenüber Mitgliedern der US-Verhandlungsdelegation folgende drei Grundsätze :  Posen müsse an Polen fallen, Ostpreußen dürfe nicht durch einen Korridor vom übrigen Deutschland getrennt werden und der polnische Zugang zur Ostsee könne „lediglich“ durch die „Umwandlung Danzigs in einen Freihafen“ und garantierte Nutzungsrechte der Eisenbahn- und Flussverbindungen geschaffen werden.

 

Die Danzig-Korridor-Frage in Versailles

 

Konkurrierende Modelle

Als am 18. Januar 1919 im Spiegelsaal von Versailles die Friedenskonferenz zusammentrat, lag eine Fülle von schwierigsten und zum Teil kaum lösbar miteinander verwobenen wie konfliktträchtigen Problemen vor den Friedensmachern. Die Neuordnung Ostmitteleuropas genoss zwar nicht die höchste Priorität, galt aber von vornherein als konfliktbeladen. Das lag nicht nur, aber zum erheblichen Teil an den polnischen Grenzfragen und deren unterschiedlicher Bewertung durch die Siegermächte.

Schon am 29. Januar 1919 präsentierte der Leiter der polnischen Delegation, Roman Dmowski, dem Obersten Rat die Territorialforderungen der Warschauer Regierung. Im Osten sollten die Grenzen von 1772 als Ausgangspunkt von Verhandlungen dienen. Im Norden und Westen wollte Warschau darüber teilweise hinausgehen. Ausdrücklich nannte Dmowski Posen, Oberschlesien, einen kleineren Teil der preußischen Provinz Pommern, ganz Westpreußen mit Danzig sowie das südliche Ostpreußen. Der Norden Ostpreußens mit Königsberg sollte eng mit Polen verbunden und schrittweise polonisiert werden. Memel konnte im Rahmen der angestrebten Union an Litauen fallen und zum Haupthafen für das noch zu gewinnende große Ostpolen werden. Dmowski wiederholte am 29. Januar die Ablehnung jeder Korridorlösung, weil sie zu einem Dauerkonflikt mit Deutschland führe und Polen zu wenig Sicherheit böte. Die Deutschen würden immer bestrebt sein, eine territoriale Verbindung zu einem bei Deutschland bleibenden Ostpreußen wiederherzustellen. Während Frankreich generelle Zustimmung signalisierte, lehnten Briten und Amerikaner den Umfang der Forderungen ab.

Bei den Verhandlungen der damit beauftragten Kommission für polnische Angelegenheiten unter Leitung von Jules Cambon schien sich dennoch eine für Polen günstige Lösung anzubahnen. Die allerdings ohne spezielle Instruktion handelnden Vertreter der USA und Großbritanniens stimmten unter Betonung strategischer, ökonomischer und kommerzieller Gründe, die dem Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Deutschen vorgehen müssten, einer uneingeschränkten Kontrolle Polens über Danzig und einem breiten Korridor beiderseits der Weichsel zu. Unter Berufung auf französische Quellen berichtete die New York Times am 18. März, dass der Korridor von einer Linie östlich von Lauenburg, Konitz und Schneidemühl bis über das Frische Haff bis zu einer Linie westlich von Elbing und ­Osterode verlaufen solle. Während die polnische Delegation grundsätzlich positiv reagierte, kam rasch heftige Kritik aus London und der Delegation des britischen Empire. Nachhaltige Unterstützung erhielt ihre Position von führenden liberalen Zeitungen wie Guardian oder Observer und aus der Labour-Partei, die die Einbeziehung west- und ostpreußischer Gebiete gegen den Willen der Bewohner in ein so­genanntes Großpolen wie die Errichtung eines Korridors durch deutsches Gebiet ablehnte. Der notwendige Seezugang für Polen sei nur über eine Internationalisierung der Weichsel und Freihafenrechte in Danzig akzeptabel. Unterstützung bekam die Kommission für ihre Empfehlung hingegen aus der radikalen und konservativen Presse.

Unterstützt von Wilson, bemühte sich Lloyd George nach seiner Rückkehr aus London intensiv um eine Revision der von Frankreich vehement befürworteten Kommissions­empfehlungen. Für ihn überwogen weiterhin die Nachteile eines polnischen Danzigs und eines weiten Korridors die von den Befürwortern vorgebrachten Vorteile für Polen :  Nur so könnte Polen wirtschaftlich prosperieren, seine Unabhängigkeit sichern und sich gegen später zu erwartende deutsche Revanchebestrebungen behaupten. Unabhängig vom Umfang ihrer Territorialverluste – die Deutschen würden sich nie mit ihrer Niederlage abfinden und „respektierten allein Stärke“, meinte nicht nur Cambon. Die Stabilität und der Frieden Europas erforderten ein mächtiges Polen als Bündnispartner Frankreichs, ein großes Polen mit weitem Zugang zum Meer. Ähnlich argumentierten die Vertreter Polens, die gleichzeitig „die Rückgabe“ Danzigs und Westpreußens als Akt der Wiedergutmachung des nie vergessenen Unrechts von 1793 betrachteten, als die alte Hansestadt mit ihrer wechselvollen Geschichte im Rahmen der zweiten polnischen Teilung an Preußen gefallen war. Sollte Polen Danzig nicht bekommen, dann sei „der Krieg für Polen verloren“ (äußerte Paderewski z. B. am 6. 4. 1919 gegenüber der Nachrichten- und Presseagentur AP).

Der Weg bis zum Kompromiss

Ohne intensiver auf Details einzugehen, für den britischen Premier und seine Regierung blieb „Greater Poland – Großpolen“ mit Einbeziehung vieler Minderheiten gegen deren Willen vor allem ein Faktor zukünftiger Instabilität. Aktuell mochte die Siegermächte (mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen zum angeratenen Reagieren) besonders beunruhigen, dass sich Polen weiterhin in erklärten oder nicht erklärten Kriegen mit seinen Nachbarn befand und sich im Spätwinter / Frühjahr 1919 der bewaffnete Konflikt mit den Sowjets deutlich verschärfte – in Versailles konzentrierte sich die perspektivische Hauptsorge um die Überzeugung, dass die Wegnahme Danzigs und Westpreußens im Bewusstsein aller Deutschen ein „nie auf hörendes“ Gefühl ungerechter Behandlung erzeuge. Mit wahrscheinlich fatalen Folgen für Europa würde auf diese Weise in Paris die Saat einer neuen großen Katastrophe gelegt. Amerikanische Di­plomaten berichteten aus ihren Einsatzländern z. B., dass die gesamte polnische Nation einen direkten Seezugang mit Danzig als unverzichtbare Forderung ansähe, während alle Deutschen von links bis rechts eine Abtretung Danzigs und die Schaffung eines Korridors für Polen als „eklatant ungerecht“ betrachteten. Eine erzwungene Übergabe Danzigs und Westpreußens würde demnach zu „endlosen Auseinandersetzungen“ führen und zu einer mächtigen Waffe in der Hand radikaler Nationalisten werden. In Westpreußen waren sich alle deutschen politischen Parteien zumindest in einem Ziel einig :  der „Deutscherhaltung Danzigs und Westpreußens“. Dagegen gab es für die polnischen Zeitungen von der Gazeta Grudziądzka bis zur Gazeta Toruńska nur eine Lösung – Danzig und Westpreußen mussten Teil Polens werden. Unterstützung fanden sie in einigen Artikeln großer amerikanischer Zeitungen, in denen davor gewarnt wurde, vitale Interessen Polens zu opfern. In einem langen Beitrag der Washington Post vom 24. Mai 1919 unter der Überschrift „Failure to give Danzig port to Poland may leave war spoils in grasp of Huns“ argumentierte ein namentlich nicht genannter „ Ex-Attaché“, dass ohne weiten und sicheren Seezugang mit Danzig kein starkes Polen und damit auch nicht der nötige „mächtige Pufferstaat“ möglich sei, um Russland von Deutschland zu trennen und vor „germanischer politischer und ökonomischer Aggression zu schützen“ :  Man dürfe Polen deshalb nicht als „Kriegsbeute in den Fängen der Hunnen lassen“.

In der erbitterten Kontroverse mit der französischen Führung konzentrierte sich Lloyd George auf die aus britischer Sicht vom vorgeschlagenen Weichselabkommen ausgehenden Gefahren zukünftiger Kriege. Die Washington Post vom 24. März informierte über seine Auffassung, dass die geplante Eingliederung vieler Deutscher in Polen sehr wahrscheinlich nur die Saat für einen „weiteren Krieg“ lege. Während der internen Verhandlungen der Großen Drei fragte er, ob jemand (in der späteren Normalität des Friedens) bereit sei, zur Behauptung polnischer Herrschaft über die deutsche Großstadt Danzig gegebenenfalls eigene Truppen in Marsch zu setzen. Das Schweigen selbst Clemenceaus sprach für sich. Auf die direkt an Clemenceau gerichtete Frage, ob denn jemand wollen könne, dass die Deutschen, so wie es die Franzosen nach 1871 mit Straßburg getan hatten, in ihren Städten Statuen von Danzig „in Trauer“ aufstellten, da antwortete der starke Mann der französischen Politik :  „Auch ich will das nicht.“ Wilson, der in der Danzig-Korridor-Frage grundsätzlich die britischen Argumente unterstützte, verwies auf die reale Möglichkeit, dass bei den Deutschen später einmal der Wunsch entstehen könne, ihre Landsleute wieder von polnischer Herrschaft zu befreien. Er fügte hinzu, „dass es schwer wäre, diesem Wunsch zu widerstehen“.

Unter massivem Zeit- und Einigungsdruck verständigten sich die Großmächte am 1. April grundsätzlich auf folgende Kompromisslinie :  Danzig und Umgebung werden Freistaat unter Garantie des Völkerbundes, und Polen bekommt garantierte Hafen- und Transitrechte sowie weitere umfassende Sonderrechte und ohne Volksabstimmung als Teil des polnischen Staatsgebietes einen Korridor am Westufer der Weichsel. Frankreich musste als Gegenleistung für das britisch-amerikanische Entgegenkommen Plebiszite, nicht nur in Ermland und Masuren, sondern auch in Marienburg-Marienwerder akzeptieren. Die für Polen ungünstigen Ergebnisse der Volksabstimmungen im Juli 1920 wurden in London und Washington allgemein erwartet.

Ein brüchiger Friede

Die polnische Delegation, die trotz französischen Wunsches vor der Entscheidung nicht angehört worden war, zeigte sich empört und suchte nach Wegen, doch noch eine polnische Dominanz in Danzig zu erreichen. Schon am 10. April informierte Esme Howard seine Vorgesetzten, die „große Furcht der Polen“ sei, dass Danzig nun „seinen deutschen Charakter behalten werde“. Amerikaner und Briten lehnten jedoch gegenüber Paderewski und Dmowski eine wie auch immer geartete polnische Autorität über Danzig unmissverständlich ab. Um befürchtete polnische Versuche von vornherein zu verhindern, Danzig im Handstreich unter Kontrolle zu nehmen, sollte – entgegen polnischen Intentionen – die Sicherheit Danzigs allein dem Völkerbund obliegen. Teil des Deals zwischen Frankreich und Großbritannien war die Festlegung, dass ein Brite solange Hochkommissar in Danzig sein sollte, wie ein Franzose Chef der Regierungskommission im Saarland war.

Mit der Ratifikation des Versailler Vertrages vom 18. Juni 1919, die das deutsche Parlament am 9. Juli 1919 vollzog, wurde die Bildung eines polnischen Korridors zur Ostsee und die Umwandlung Danzigs in einen Freistaat unter dem Schutz des Völkerbundes gültiges Völkerrecht. Kaum jemand der international Verantwortlichen nahm Notiz davon, dass die bis dahin ohnehin kaum bekannte Provinz Westpreußen de facto in vier Teile zerfiel :  Den polnischen Korridor und die Freie Stadt Danzig. Alle westlich der Weichsel verbleibenden Gebiete kamen zur späteren Grenzmark Posen-Westpreußen und aus jenen östlich der Weichsel wurde sodann der Regierungsbezirk Westpreußen gebildet und in die Provinz Ostpreußen integriert.

Noch offene einzelne Fragen bzw. Regularien sollten unter der Ägide der Pariser Botschafterkonferenz ausgehandelt werden, was sich als ein mühevoller und sich hinziehender Prozess herausstellen sollte, der bei allen Betroffenen eine Menge an Frustration hervorrief. Speziell die genaue Regelung der Weichselgrenze löste in Deutschland Stürme der Entrüstung aus, da sie Preußen nahezu völlig vom Fluss abschnitt.

Wie nicht anders zu erwarten, wurde die in Versailles bestimmte Danzig-Korridor-Regelung sowohl von Deutschen als auch Polen heftig kritisiert und empört zurückgewiesen. Mit Sorge konstatierten internationale Beobachter, dass Berlin wie Warschau oder Danzig den Versailler Großmächtekompromiss primär als Übergangs­stadium zur Rück- bzw. Eingliederung Danzigs zu betrachten schienen.

Auch im Lager der Siegermächte waren die Meinungen geteilt. Nicht nur in der Londoner Downing Street hielt man das Danzig-Korridor-Abkommen für keinen guten Kompromiss, sondern lediglich als das geringere von zwei Übeln. Große Zweifel gab es an der Dauerhaftigkeit der Regelung und Sorgen vor deren Sprengmächtigkeit. Antony Lentin hat treffend dazu bemerkt, dass sich „der (Holz)Wurm des Appeasements“ – Entgegenkommen gegenüber Deutschland – schon „im Gebälk der Versailler Konferenz“ einnistete. Sehr früh begann vor allem bei Briten und Amerikanern die Suche nach Möglichkeiten zur Entschärfung des „gefährlichsten europäischen Krisenherdes“ – wie es zunehmend hieß.

Die Zukunft musste zeigen, ob die Optimisten unter den Verfechtern der Freistaat / Korridor-Lösung mit ihrer Hoffnung Recht behielten, dass schließlich doch die Vorteile gedeihlicher Zusammenarbeit auf der Grundlage gegenseitig guten Willens Polen wie Danziger und die Deutschen in Deutschland damit aussöhnen würden, dass Danzig gleichzeitig Hafen Polens und ein deutscher Stadtstaat sein konnte. Damit verbundene Hoffnungen erwiesen sich in der Realität aber als trügerisch. Im Juli 1931 kam ein Memorandum des britischen Außenministeriums zu dem ernüchternden Schluss :  „Das Danzig-Abkommen hätte nur auf der Basis von gutem Willen und Kooperationsbereitschaft vernünftig funktionieren können. Nur daran mangelt es auf beiden Seiten völlig.“

 

 

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