Der Kanal durch die Frische Nehrung

 

Was lange währt …

Vor 1.000 Jahren wäre ein Durchstich noch gar nicht nötig gewesen, weil sich die Nehrung erst später zu einer geschlossenen Landzunge herauszubilden begann. Sogar im 13. Jahrhundert war die Danziger Bucht noch direkt vom Haff aus zu erreichen. Dies vermochten die Burg und die Stadt Elbing, die beide im Jahre 1237 gegründet worden waren, noch vorteilhaft zu nutzen. Im Laufe der Zeit versandete die Nehrung allerdings so weitgehend, dass sich der Wasserweg, über den die inzwischen zur Hanse gehörende Stadt erreicht werden konnte, erheblich verlängerte. Um die Ostsee zu erreichen, mussten Schiffe nun die ganze Nehrung umfahren und an deren Ende das Pillauer Seetief passieren, oder aber sie nahmen den zeitaufwändigen Umweg über die Nogat und die Weichsel in Kauf.

Unter dieser Voraussetzung tauchte die Idee eines Durchstichs schon in den Zeiten der Ersten Rzeczpospolita auf: 1577, bei der Belagerung Danzigs durch den polnischen König Stefan Batory, musste der gesamte polnische Handel über den Elbinger Hafen abgewickelt werden. Deshalb wurde damals bereits der Plan gefasst, in der Nähe von Pröbernau einen Kanal zu bauen. Diesen Überlegungen wurde durch den Friedensschluss zwischen Batory und Danzig dann allerdings bald der Boden entzogen.

Nachdem die Region preußisch und Teil der Provinz Westpreußen geworden war, blieb Danzig zunächst noch für gut zwei Jahrzehnte bei Polen. Deshalb schien es neuerlich angeraten, Elbing als Konkurrenzhafen auszubauen und den Weg zur Danziger Bucht durch einen Kanal zu verkürzen. Die Voraussetzungen, unter denen die gesamte Infrastruktur dieses Vorhabens hätte entwickelt werden müssen, wurde aber als zu ungünstig erachtet.

Einen gänzlich anderen Gedanken brachte im Jahre 1874 der Danziger Stadtarchitekt Julius Albert Licht ins Spiel. Er schlug vor, einen Bereich des Frischen Haffs trockenzulegen und dabei zugleich einen durchgehenden Kanal von Elbing zur Danziger Bucht zu bauen. Diese Überlegungen griff 1928 der Magistrat der Stadt Elbing auf und gab eine Machbarkeitsstudie in Auftrag. Dabei entstand ein 1932 veröffentlichtes Papier, das die Möglichkeit skizzierte, 65 % der Fläche des Frischen Haffs trockenzulegen und dadurch ca. 540.000 ha für die  Landwirtschaft und neue Ansiedlungen zu gewinnen. Auch diese Überlegungen liefen aber letztlich ins Leere.

Der Vizeministerpräsident der Zweiten Polnischen Republik, Eugeniusz Kwiatkowski, der als »Vater von Gdynia« verehrte wurde und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als Regierungsbevollmächtigter für den Wiederaufbau und die Entwicklung von Küstenprojekten tätig war, sprach sich noch einmal für einen Haffdurchstich aus – für die bald danach herrschende kommunistische Staatsmacht aber war solch ein Vorhaben nicht mehr von Interesse. Erst nach der politischen Wende der Jahre 1989/90 wurde dieses Thema neuerlich spruchreif. Neben wirtschaftlichen Gründen waren es jetzt auch strategische Gesichtspunkte, die zum Zuge kamen, weil Russland die Durchfahrt durch das Pillauer Seetief nun erschwerte und schließlich sogar blockierte. Deshalb erklärte Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der EU-skeptischen PiS-Partei (Recht und Gerechtigkeit) den Bau eines Kanals durch die Frische Nehrung bei der Wahlkampagne des Jahres 2005 zu einer vordringlichen Aufgabe staatlichen Handelns.

In der damals nur relativ kurzen Amtszeit der PiS-Regierung wurde dieses Vorhaben allerdings nicht nachdrücklich angegangen, und die ab 2007 nachfolgenden Ministerpräsidenten der liberalen und europafreundlichen PO-Partei (Bürgerplattform) kamen darauf auch nicht allzu intensiv zurück: die Zusage, 2009 mit den Bauarbeiten beginnen zu wollen, wurde wieder zurückgezogen, weil in diesem Jahr von der russischen Seite entgegenkommende Zugeständnisse gemacht worden waren. In den folgenden Jahren der PO-Regierung setzte sich in der Politik wie in der Öffentlichkeit zudem die Anschauung durch, dass das ganze Projekt nicht weiterverfolgt werden sollte, weil ein Ausbau Elbings aufgrund der unmittelbaren Nachbarschaft zum stets weiter expandierenden Danziger Hafen keinerlei Erfolg verspräche und auf Dauer unrentabel bleiben müsste.

… wird endlich gut?

Nachdem die PiS im Herbst 2015 die Macht wiedererlangt hatte, wurde der Kanal neuerlich, und nun mit hoher Priorität, auf die Agenda gesetzt. Trotz vieler Gegenstimmen fasste die Regierung in Warschau am 24. Mai 2016 einen Beschluss zum »Bau des Wasserweges zwischen dem Frischen Haff und der Danziger Bucht« und legte fest, dass er möglichst schon 2017 begonnen und bis zum Jahre 2022 fertiggestellt werden sollte. Die Kosten von 880 Mio. Złoty übernahm der Staat. Nach der Prüfung mehrerer Alternativen fiel die Entscheidung, den Durchstich bei dem Dorf »Neue Welt« – östlich von Vogelsang (Skowronki) – auszuführen. Hier ist die Frische Nehrung besonders schmal, und auch die Bodenbeschaffenheit sprach für diesen Ort. Die komplizierte Vorbereitung dieser Maßnahme wurde mit großem Tempo betrieben. Bei der öffentlichen Ausschreibung erhielt ein belgisch-polnisches Konsortium den Zuschlag, und die Arbeiten konnten immerhin schon im Oktober 2019 in Angriff genommen werden.

Der Kanal benötigte eine Länge von 1.300 m und sollte eine Mindesttiefe von 5 m erhalten. Zudem war eine 269 m lange Schleuse vorzusehen, durch die der Unterschied zwischen dem Wasserstand der Danziger Bucht und demjenigen des Haffs, der bis zu 1,5 m beträgt, ausgeglichen werden kann. Damit der Straßenverkehr nicht allzu spürbar behindert wird, wurden des Weiteren zwei Drehbrücken mit eingeplant. Überdies mussten zur Danziger Bucht hin zwei Wellenbrecher errichtet werden, von denen der westliche eine Länge von 340 m und der östliche eine Länge von 1.000 m aufweisen. Sie schützen zugleich einen Hafen sowie Warteplätze für Schiffe. Für diese Molen wurden aus Skandinavien Steine mit einem Gewicht von insgesamt 390.000 t herangeschafft. Auf der Haff-Seite schließlich ist – etwa viereinhalb Kilometer von der Kanalzone entfernt – aus dem ausgehobenen Erdboden eine künstliche Insel aufgeschüttet worden. Sie umfasst 181 ha und soll, zumal dieses Gebiet zur Schutzregion »Natura 2000« gehört, mit Röhricht bepflanzt werden und einen neuen Rückzugsraum für die heimische Flora und Fauna bieten. Auf diese Weise will der Staat eine gewisse Wiedergutmachung für die zweifelsfrei entstandenen Umweltschäden leisten.

Für die Regierungspartei PiS hatte dieses Vorhaben eine überragende politische Bedeutung gewonnen. Zum einen sollte sich Polen demonstrativ aus der Abhängigkeit von willkürlichen Entscheidungen Russlands befreien. Zum anderen wollte die PiS dem Wahlvolk beweisen, dass sie diejenige Kraft im Lande ist, die ihre Zusagen verlässlich hält. Angesichts dieser Ziele spielte noch nicht einmal die Explosion der Kosten eine Rolle, die sich schon kurz nach dem Baubeginn mehr als verdoppelt hatten und sich nun auf 1,984 Mrd. Złoty beliefen.

Die Realisierung des Vorhabens wurde unbeirrt und energisch vorangetrieben, und dabei fanden auch durchaus bedenkenswerte Gegenargumente kein Gehör. Zu diesen kritischen Einwänden zählte zum einen der Hinweis darauf, dass die Schleuse nur von Schiffen mit einer maximalen Länge von 100 m genutzt werden könnte und dass somit die Dimensionen des Wirtschaftsverkehrs schon im Vorhinein massiv eingeschränkt würden. Zum anderen machten Beobachter auf die Nachfolgekosten aufmerksam, die sowohl der Ausbau und der Unterhalt der Wasserstraße nach Elbing sowie dort die Einrichtung der erforderlichen Hafenanlagen hervorriefen. Ökonomen berechneten, dass die Neuanlagen erst nach einer Zeitspanne von etwa 450 Jahren beginnen würden, eine Rendite abzuwerfen.

Zum dritten schließlich überging die Regierung auch Rückfragen und dringlichen Mahnungen der EU, die mehrmals deutlich machte, welche Umweltschäden der tief in das Ökosystem von Nehrung und Haff eingreifende Kanalbau hervorzurufen drohte. Da diese Interventionen aus Brüssel schon keinen Effekt machten, standen die lokalen Naturschützer erst recht auf verlorenem Posten. Ihre lautstarken Proteste, die auch von den betroffenen Gemeinden Stutthof und Kahlberg mitgetragen wurden, oder einzelne Störmanöver von Aktivisten, die auf den Abbruch der schon laufenden Bauarbeiten zielten, verpufften wirkungslos.

In das Bild einer Regierung, die weder auf eine demokratisch abgesicherte breite Zustimmung der Bevölkerung Wert legt noch sich an soliden ökonomischen Analysen und Prognosen orientiert, fügt sich bruchlos auch der Misserfolg der Bernsteinförderung ein. Hier hatte Warschau aufgrund geologischer Untersuchungen auf ein Vorkommen von 6,9 t Bernstein gehofft – im Laufe der Erd- und Tiefbauarbeiten wurden aber lediglich zwei Lager mit einem geschätzten Gewicht von 500 bzw. 900 Kilogramm entdeckt. Der bisherige Ertrag liegt sogar noch deutlich unter diesen bereits weit nach unten korrigierten Maßzahlen.

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Der 24. Februar 2022, an dem durch den russischen Überfall auf die Ukraine viele Gewissheiten abrupt zerstört worden sind, hat auch das Vorhaben des Kanalbaus in einem deutlich anderen Licht erscheinen lassen. Nun war gänzlich offenbar geworden, dass keiner der Nachbarstaaten vor der aggressiven Politik Russlands sicher sein kann; und angesichts der großen Nähe zur hochgerüsteten Oblast Kaliningrad wandelte sich der Haffdurchstich im politischen Diskurs zu einer höchst nützlichen, von der Regierung in weiser Voraussicht vorangetriebenen Maßnahme, der für die strategische Verteidigung der Polnischen Republik nun eine erhebliche Bedeutung zukommt. Die Akzentuierung dieses Kontextes spiegelt sich auch in der Wahl des Termins, an dem der Kanal eingeweiht wird: Die Regierung in Warschau hat jüngst mitgeteilt, dass dieses Ereignis am 17. September stattfinden soll – an jenem Tag, an dem 83 Jahre zuvor, kurz nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, die sowjetrussische Armee Polen angegriffen und besetzt hat.

Unabhängig von den Funktionen, die der neue Kanal in den Planungen der Militärs – und innerhalb der symbolgesättigten polnischen Erinnerungspolitik – übernimmt, stellt sich die Frage, ob er nicht auch für die Region gewisse Vorteile mit sich bringt. Dabei zeigt sich, dass er trotz aller berechtigen, fortbestehenden Zweifel die Wirtschaft und vornehmlich den Tourismus beleben könnte. Darauf rechnen die Küstenorte Succase, Tolkemit, Frauenburg und Neu Passarge, deren Häfen und Marinas inzwischen schon modernisiert und teilweise erweitert worden sind. Zudem wird der Bau des Wasserwegs mit der Vertiefung der Fahrrinne im Elbing und die Erweiterung der Hafenanlagen nicht nur neue Arbeitsplätze schaffen, sondern auch zur Verbesserung der Infrastruktur beitragen. Davon zeugt beispielsweise schon die 100 m lange Drehbrücke, die jetzt nördlich vom Elbing in Terranova errichtet wird. Auf diese Weise dürften letztlich weitere Impulse für innovatorische Entwicklungen ausgelöst werden, derer gerade die alte Hansestadt, die wirtschaftlich in den letzten 30 Jahren einiges an Attraktivität eingebüßt hat, dringend bedarf.

Bartosz Skop

 

 

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Historisierende Collage (Adobe Stock) Wahlprognosen und Stimmzettel (Adobe Stock)