In den Blick genommen

 

Brygida Helbig

Kleine Himmel

Berlin: KLAK-Verlag, 2019

 

Als der Roman von Brygida Helbig 2013 in der polnischen Originalausgabe erschien, wurde für das Titelbild ein Tropfen, sinnfällig eine Träne, beim Eintauchen ins Wasser abgelichtet. Er dringt ein, Bewegung entsteht, Kreise ziehen ihre Bahn. Dieser Moment versinnbildlicht jenen, in dem Zusanna, die Protagonistin einer facettenreichen Familiengeschichte, ihren Laptop öffnet und der Blick auf das Hintergrundbild mit dem Grabstein der Großmutter Krystyna Kowalczyk fällt. Kurz taucht sie ein in bewegende, schmerzliche Erinnerungen, fühlt, wie sich „die tiefen Stoßseufzer“ ihrer Babcia „zusammen mit einer bodenlosen Traurigkeit auch in ihre eigene Seele eingegraben haben“. Zugleich aber stößt sie mit der Frage, warum eigentlich der Geburtsname auf dem Grabstein fehle, zum Zentralmotiv des Romans von Heimat, Herkunft und Erbe vor. Der Leser muss auf die Antwort warten, denn auch „Zusanna erfuhr davon erst viel später“. Derweil wird der Laptop zum Hort eines kostbaren generationenübergreifenden Familiengedächtnisses, gespeist mit tradierten Erzählungen, Gesprächen, Entdeckungen, historischen Betrachtungen. Zusanna „pflastert den ganzen Bildschirm mit schwarzen Buchstaben zu, sortiert, verschiebt, mischt, pfeffert, salzt, sucht nach Würzstoffen, verrührt alles nochmal“; sie lässt den Leser teilhaben an ihrer Suche, nimmt ihn mit auf ihre Zeitreisen bis in die 1930er und 1940er Jahre, zwischen Osten und Westen wechselnd, weniger stringent durchgeführt denn vielfach gebrochen und mehrfach aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Es ist eine persönliche Sicht, nicht nur in den Passagen der Selbstreflexion. Mit welchen „edlen Zutaten“ hätte wohl, könnte sich der Leser fragen, Zusannas jüngerer Bruder „diesen Zauberkasten, ihren Hexenkessel“ gefüttert, um ein Bild der Eltern zu entwerfen, deren beider Leben nachhaltig durch Vertreibung und Umsiedlung, durch bittere Kriegserfahrungen und Not geprägt wurden.

Der Stoff, der bei dieser Lektüre kunstvoll entfaltet wird, lässt sich mit wenigen biographischen Notizen skizzieren. Willi Keller, Zusannas Vater, ist vierzehn Jahre jung, als der Zweite Weltkrieg zu Ende geht. Seine ersten Lebensjahre hat er in Steinfels nahe der ukrainischen Grenze als Sohn galiziendeutscher Siedler mit polnischer Staatsangehörigkeit verbracht. Am 26. September 1939 geht der Halbwaise mit seiner Mutter und den Brüdern auf die Flucht vor der Roten Armee. Nach dramatischen Ereignissen erreichen sie den Warthegau. „Sie vermaßen 1940 den Umfang seines Schädels, untersuchten eingehend die Form seiner Nase, nahmen seine Herkunft und Rassenzugehörigkeit genau unter die Lupe, bestätigten amtlich sein Volksdeutschtum und stellten ihm ein entsprechendes Einbürgerungs­dokument aus, auf dessen Grundlage seine Kinder Zusanna und Edek Jahrzehnte später den Status deutscher Spätaussiedler bekommen sollten.“ Die Familie lebt schließlich zusammen mit dem ihr zugewiesenen polnischen Knecht in einem Haus, aus dem die polnischen Bewohner zwangsausgesiedelt worden waren. Willy besucht die Schule, findet Halt bei der Hitlerjugend. Den Flüchtlingszügen im Januar 1945 schließen sie sich nicht an; als Folge daraus wird Willi zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt, später schlägt er sich als „deutscher Stallbursche“ zum Nulltarif durch. Seine Mutter legt bei den Behörden erfolgreich die Papiere zur Wiedererlangung der polnischen Staatsbürgerschaft vor, und er darf sich von nun an Waldek Keler nennen. „Von Willi nahm er ohne Bedauern Abschied.“ Mit diesem Schritt öffnet sich der Weg für eine reputierliche Karriere beim Militär, späterhin im Bauwesen der Stadt Stettin. Dort wird er dann eine Familie gründen: mit seiner Frau Basia, deren Kindheit ihrerseits durch den Verlust der Heimat in Weißrussland, die Verschleppung und das entbehrungs­reiche Ausharren in Kasachstan kaum weniger dramatisch verlaufen ist. Nun gilt es, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren. Pole? Deutscher? Abstammung? „Das ist doch alles Quatsch mit Soße“, sagt Waldek.

 

Zusanna, inzwischen eine geschiedene Frau mit erwachsener Tochter, wurde in Stettin geboren, zweifelt aber, ob dort ihre Heimat sei – oder doch in Berlin? Endlich erkennt sie, dass die Welt der Bücher ihr ein Zuhause und Heimat bedeutet. Sie nimmt ihre Eltern und Großeltern in den Blick, respektvoll, wissbegierig, anteilnehmend – es erfolgt keine Abrechnung, es werden keine Vorwürfe laut. Der Ton wird niemals pathetisch; ironisch schmunzelnd beschreibt sie die hasardeurartigen Eskapaden ihres Vaters beim Militär ebenso wie das Heer seiner gesammelten Lindt-Schokoladenosterhasen, die „fein in Reih und Glied, vom kleinsten bis zum größten“ unter seiner Obhut stehen. Für Zusanna werden sie zum Sinnbild seiner soldatischen Grundhaltung, die auch auf sie als Kind abfärbt, denn „wie ein Soldat ging Zusanna in die Schule“. Bisweilen wählt sie einen salopp distanzierten Ton, um durchaus dramatische Situationen zu kommentieren: „Tränen helfen einem nicht weiter. Da nützt kein Jammern und kein Klagen. Da muss man einfach pfiffig sein.“ Und dies gilt auch für Jakub, den Großvater mütterlicherseits, als er mit der Familie in der Tiefe des unwirtlichen Kasachstans, fern der Heimat ankommt. Bald hat er eine passable Behausung geschaffen, in der jedoch der zweijährige Bruder von Basia fatalerweise zündelt: „Nun, ja. Die Hütte brannte nieder. – Der Teufel lacht sich ins Fäustchen.“

Zusanna hat die Gabe zuzuhören, sich einzuhören in die Geschichten ihrer Familie, um das Wesentliche herauszuhören. So erkennt und verfolgt sie, wie schwer auf dem Kind Willi, später Waldek, das Vermächtnis des früh verstorbenen Vaters lastet, seine Mutter dürfe niemals wieder heiraten. Das ständige Verantwortungsgefühl, sie beispielsweise, nachdem sie eine Beziehung mit dem polnischen Knecht eingegangen ist, vor dem Vorwurf der Rassenschande zu schützen, dringen in seine Träume und rauben ihm über Jahre den Schlaf. Einfühlsam vermag Zusanna die Entwurzelung der galizischen Großmutter Krystyna, einst Christina, in poetischer Sprache zu erfassen. „Eingesperrt in einer kleinen Erdgeschosswohnung in Stettin, eingepfercht in zwei winzigen Zimmern ohne Bad, schaute sie, die doch an weite Räume und endlose Wälder und Felder gewöhnt war, stundenlang aus dem Fenster auf die Straße, als hätte sie jemand in einen Holzrahmen gesteckt und darin zu einem traurigen Bildnis erstarren lassen.“ Mit dem Schicksal der eigenen Mutter, die umständehalber ihre kreativen musikalischen Begabungen niemals habe nutzbar machen können, hadert Zusanna und sieht, dass die Mutter ihr Leben lang „immerzu am Rennen ist, ständig auf der Flucht!“ Geblieben ist die Erinnerung an den Klang der Heimat, in der sie „die große weite Welt vor sich [hatte], nach der sich die Seele so verzehrte, in die man mit seinen Eltern oder Großeltern ab und zu aufbrach, um Pfifferlinge und Steinpilze zu sammeln“.

 

Überall sucht, findet und sammelt Zusanna kleine Mosaiksteinchen des Erinnerns, keinesfalls vorgestanzte Puzzlesteine, die sie nur in eine vorgegebene Form zu bringen hätte. Sie liebt das Bild der „kleinen Himmel“, polnisch „Niebko“, das sie an ein ihr vertrautes Kinderspiel denken lässt und das als Leitmotiv das ganze Werk vom Buchtitel an durchzieht. Dabei ging es darum, glänzende Glasscherben, schillerndes Bonbonpapier, bunte Blätter, auch Gräser zusammenzutragen, diese, kunstvoll arrangiert, mit Erde zu bedecken und den Ort bis zu seiner Wiederentdeckung als Geheimnis zu bewahren.

Bei ihrer Spurensuche ist Zusanna niemals in die ersten Heimatstätte der Eltern, etwa zum Grab des Großvaters, gereist. Sie beklagt ihre eigene Trägheit, ein Leben „mit angezogener Handbremse“. Hier mischt sich nun einmal wieder die allwissende Erzählerin ein: „Sieht sie es noch, oder nicht. Sieht sie es, oder nicht? Dreimal darfst Du raten. – Wir werden sehen.“ – Aus dem Anhang der deutschen Ausgabe erfährt der Leser, dass letztlich die Autorin selbst, und nicht ihr Alter Ego, nach der Veröffentlichung der Originalausgabe aufbricht, um den Erinnerungsort Steinfels zu erkunden. Das Grab aber sucht sie vergeblich – ein aufwühlendes, buchstäblich schmerzhaftes Unterfangen. 

Ursula Enke

 

 

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Historisierende Collage (Adobe Stock) Wahlprognosen und Stimmzettel (Adobe Stock)