Modellhaft und doch
auch einzigartig

 

Von Alexander Kleinschrodt

 

Gleich zwei historische Stätten in Westpreußen, das mittelalterliche Stadt­zentrum von Thorn und die Marienburg, wurden vor 20 Jahren von der UNESCO in die Liste des Welterbes eingetragen. Dass sie dadurch seitdem international

an Bekanntheit gewonnen haben, kann als gesichert gelten. Was aber ­bedeutet das Prädikat »Welterbe« eigentlich – und wie wurde die Aufnahme der beiden Denkmäler begründet ?

 

Während gerade dieser Artikel entsteht, kommt aus Köln eine interessante Nachricht :  Das Römisch-Germanische Museum, direkt südlich des Doms gelegen, soll als Baudenkmal eingetragen werden. Ein relativ flaches, kastenförmiges Gebäude, das in der ersten Hälfte der 1970er Jahre entstand – so ein »Klotz« als Denkmal ?  Selbst für Wohlgesinntere, die in solchen Fällen nicht nur ärgerlichen Eigensinn einer Behörde zu erkennen glauben, sind die Wege und Ziele des Denkmalschutzes manchmal zunächst ein »Buch mit sieben Siegeln«.

 

Wie so oft erschließt sich der Sinn des Vorhabens aus den Zusammenhängen. Zuallererst ist da der Auftrag der Denkmalämter, ihre Inventare fortzuschreiben und zu ergänzen. Dabei kommen mehr und mehr auch die Jahre um 1970 in den Blick, in denen nicht wenige charakteristische Bauwerke entstanden sind. Das Römisch-Germanische Museum kann man dazurechnen, zur Zeit seiner Errichtung war es ein sehr modernes Ausstellungshaus und ist das in gewisser Hinsicht auch heute noch, denn die vermeintlich nüchterne Architektur bietet im Inneren eine große Flexibilität für die Präsentation der antiken Artefakte. Mit dem verglasten Erdgeschoss, das die zentralen Objekte der Sammlung sehen lässt, und einer Passage, die ebenfalls Ausstellungsfläche ist, wirkt das Haus in die Stadt hinein. Wenn Denkmalpfleger dieses Museum zu einem Denkmal erklären, geben sie einen Hinweis auf etwas aus ihrer Sicht Besonderes :  Hätten sie diese Möglichkeit nicht, dann bestünde Denkmalschutz nur aus der nachträglichen Anerkennung bereits allgemein geschätzter, wenig bedrohter Kulturgüter – und wäre damit weitgehend nutzlos.

 

Beim Weltkulturerbe verhält es sich in vieler Hinsicht ähnlich. Das auf einer 1972 verabschiedeten internationalen Konvention aufbauende Programm der UNESCO erfreut sich zwar heute einer großen Bekanntheit, die viel damit zu tun hat, dass die Tourismusbranche, Medien und viele andere Akteure das neue Kennzeichen bereitwillig aufgegriffen und die Welterbekonvention zum vielleicht größten Publikumserfolg der internationalen Kulturpolitik gemacht haben. Trotzdem gibt es auch hier manchmal Irritationen. Seit der letzten Sitzung des Welterbekomitees in Istanbul, die, jäh von dem Militärputsch am 15. Juli 2016 unterbrochen, später aber noch abgeschlossen wurde, umfasst die Welt­erbeliste 1.052 Einträge. Schon diese große Zahl – die allerdings auch Orte des Naturerbes wie das Great Barrier Reef oder das Wattenmeer umfasst – provoziert abwehrende Reaktionen :  »Wann reicht’s denn nun endlich ?«, ist eine Frage, die man in diesem Zusammenhang häufig hört.

 

Die beeindruckende, auf Anhieb vielleicht auch verwirrende Vielfalt der gelisteten Kulturgüter stößt ebenfalls gelegentlich auf Unverständnis. Neben den Pyramiden von Gizeh und dem Kölner Dom – bei dem sich übrigens das junge Baudenkmal Römisch-Germanisches Museum in die »Pufferzone«, die die Umgebung einer Welterbestätte schützt, problemlos einfügt – stehen auch unbekannte, sich durch viel weniger offensichtliche Merkmale auszeichnende Orte. Der »Head-Smashed-In Buffalo Jump« in der kanadischen Provinz Alberta ist auf den ersten Blick nur ein Felsvorsprung. An dessen Fuß allerdings wurden große Mengen von Bison-Knochen gefunden. Sie bezeugen, dass prähistorische Bewohner der Region die Tiere einst systematisch in den Abgrund gescheucht haben. Diese Jagdtechnik ist dort nachweislich fast 6.000 Jahre lang praktiziert worden. Es sind diese einzigartigen Einblicke in die Vergangenheit, auf die hier der Welterbetitel hinweist.

Im Fall von Thorn und der Marienburg, den beiden von der Republik Polen nominierten »westpreußischen Welterbestätten«, mag das Prädikat »Welterbe« nicht überraschend erscheinen :  Hier die »Königin der Weichsel« mit ihrem anmutigen Stadtbild, dort nicht weniger als die größte je aus Backstein errichtete Burganlage. Beide Denkmäler sind nun schon seit 20 Jahren Teil der Welterbeliste, ihre Eintragung wurde beschlossen bei der 21. Sitzung des Welterbekomitees, die im Dezember 1997 in Neapel tagte. Doch auch hier lohnt es sich, die Arbeitsweise der UNESCO und die für die Eintragung beider Stätten ausschlaggebenden Gründe etwas genauer zu betrachten.

 

Ein Schlüsselbegriff für das Konzept »Welterbe« war die Idee eines »herausragenden universellen Wertes« bestimmter überlieferter Bauwerke und Orte. Ihre Bedeutung wurde als so hoch eingestuft, dass sie nationale Grenzen überspringen kann und diese Kulturgüter zu Repräsentanten einer Geschichte der ganzen Menschheit machen sollte. Im Umkehrschluss wurde die Weltgemeinschaft damit zu erhöhter Sensibilität und einem neuartigen globalen Engagement aufgerufen :  Würde beispielsweise dem Welterbe Thorn Schaden zugefügt, soll das nun auch in Kanada oder Japan nicht gleichgültig hingenommen werden – schließlich ginge es ja nach dem von der UNESCO vertretenen Verständnis um einen Verlust, der nicht nur den Staat Polen beträfe, sondern die ganze Welt. Die internationale Anteilnahme an den gegenwärtigen Zerstörungen in Syrien, besonders in Aleppo und Palmyra, zeigt, dass sich hier tatsächlich ein Bewusstsein entwickelt hat, das noch aus der Perspektive der 1970er Jahre nicht selbstverständlich war. Obwohl gerade Syrien belegt, wie wenig im Ernstfall getan werden kann, um drohende Verluste tatsächlich zu verhindern, und dass humanitäre Hilfe in einem solchen Konflikt ohnehin im Vordergrund stehen muss, ist diese globale Aufmerksamkeit ein Fortschritt.

 

Der »herausragende universelle Wert« bleibt allerdings eine gewagte Konstruktion :  Es stellt sich die Frage, wie sich die Mitgliedsstaaten der UNESCO denn darüber verständigen sollen, welchen Stätten diese Eigenschaft zukommt ?  Ohne eine stichhaltige Argumentation würde der Weg zum begehrten Welterbetitel auch einem auf Anhieb beeindruckenden Baudenkmal wie der Marienburg jedenfalls verstellt bleiben. Es müssen also Begründungen geliefert werden, die vor einem Plenum aus mittlerweile 192 Staaten, welche die Welterbekonvention bis heute unterzeichnet haben, Bestand haben können. Dafür gibt es immerhin einen klaren Bezugspunkt. Ihre Richtlinien für die Nominierung und Eintragung hat die UNESCO in einem Handbuch (Operational Guidelines) niedergelegt. Dort enthalten ist eine Liste von zehn Kriterien. Ein Staat, der eine Stätte als Welterbe anerkennen lassen will, muss glaubhaft machen können, dass dieser Ort mindestens eines der Kriterien erfüllt. Die am Ende dieses Prozesses von der UNESCO veröffentlichten Begründungstexte sind oft sehr aufschlussreich. Aus ihnen gehen nicht nur die wichtigsten Fakten zu einer Welterbestätte hervor – es wird auch deutlich, welche Eigenschaften eines Bauwerks oder Gebäude-­Ensembles bei der Nominierung und Eintragung in den Vordergrund gerückt wurden. Kurz gesagt :  Hier geht es um die Interpretation von Geschichte.

 

Die Grundlage für die Aufnahme der um das Jahr 1232 gegründeten Stadt Thorn in das Welterbe waren die Kriterien II und IV. Um das Kriterium II zu erfüllen, muss eine Stätte als Ausgangspunkt wichtiger Entwicklungen zum Beispiel in der Architektur oder der Stadtplanung erkennbar sein. Der historische Stadtgrundriss in Thorn wird, zusammen mit dem Baubestand aus dem 14. und 15. Jahrhundert, von der ­UNESCO als »maßstabsetzend für die sich entwickelnden Städte Osteuropas« gewürdigt. Trotzdem sei aber der bis heute gut erkennbare Aufbau Thorns aus Alt- und Neustadt sowie der am Übergang zwischen beiden Teilen liegenden Burg, mit der die Entwicklung der Stadt begann, anderswo kaum mehr in vergleichbarer Weise dokumentiert.

 

Diese Einschätzung leitet schon über zum Kriterium IV. Hier werden Beispiele für einzelne Bauaufgaben oder Anlagen angesprochen, die wesentliche Abschnitte der menschlichen Geschichte auf herausragende Weise anschaulichen machen können. Auf Thorn trifft das aus Sicht der UNESCO zu, da die Stadt ein außergewöhnlich »vollständiges Bild mittelalterlicher Lebensweisen« erkennen lasse und ihre »räumliche Gestaltung« eine wertvolle Quelle auch für die weitere Erforschung der Stadtentwicklung im europäischen Mittelalter sei. Man sieht hier, dass Denkmalschutz zwar mit der Vergangenheit befasst, aber immer auf die Zukunft ausgerichtet ist. Dafür kann man, wie hier, wissenschaftliche Gründe anführen oder die viel allgemeinere Tatsache, dass die gewachsenen europäischen Städte heute wieder als Leitbild für urbanes Leben auch in modernen Gesellschaften geschätzt werden.

 

Die andere Welterbestätte auf dem Gebiet der ehemaligen Provinz Westpreußen, die Marienburg, ist nur wenige Jahrzehnte jünger. Mit ihrem Bau ist nach heutigem Wissen zwischen 1272 und 1278 begonnen worden. Zum Zentrum der Region wurde sie ab 1309, als der Hochmeister des Deutschen Ordens seinen Sitz von Venedig an das Ufer der Nogat verlegte. Auch für die Aufnahme der Marienburg in das Welterbe wurde ein Bezug zu den Kriterien II und IV hergestellt. Betont wird in der Begründung einerseits der Einfluss, der von dieser Baustelle in technischer und künstlerischer Hinsicht ausging, sowohl auf »spätere Burgen des Deutschen Ordens« als auch auf »andere Bauwerke der Gotik in einem weiten Gebiet des nördlichen Osteuropas«. Herausragend geblieben sei sie andererseits aber doch, denn es gebe aus dieser Epoche in Europa keine vergleichbare »umfassend geplante architektonische Schöpfung«.

 

Zusätzlich kommt im Fall der Marienburg noch das Kriterium III aus den Leitlinien der UNESCO zum tragen. Hierbei geht es um Stätten, die ein »Zeugnis einer kulturellen Tradition oder einer Zivilisation« sind. Der Deutsche Orden, mit dessen Geschichte die Marienburg eng verbunden ist, wurde als historischer Akteur in diesem Sinn begriffen. Von Kreuzfahrern im Heiligen Land gegründet, eroberte und christianisierte er ab 1231 Gebiete im nördlichen Osteuropa. Durch seine straffe Verwaltung und einen regen Handel entstand ein für die damalige Zeit hochmodernes staatsähnliches Gebilde, das die UNESCO als ein »einzigartiges Phänomen in der Geschichte der westlichen Zivilisation« ansieht.

 

Eine weitere Facette aus der Geschichte der Marienburg liefert schließlich eine sogar noch ausgefeiltere Begründung für ihren besonderen Status. In den offiziellen Unterlagen ist die Rede von den Belegen, die die Marienburg für die Entwicklung der modernen Theorie und Praxis der Restaurierung und des Denkmalschutzes bietet. Angespielt wird damit auf die ab 1803 einsetzenden Bemühungen um die Erhaltung der zur Kaserne umfunktionierten Burg, die schließlich unter Beteiligung von Karl Friedrich Schinkel aufwendig instandgesetzt wurde. Der preußische Staat erfand hier für sich gewissermaßen das Prinzip des kulturellen Erbes und zog praktische Konsequenzen daraus, weshalb die Marienburg heute als »ein historisches Zeugnis für die Denkmalpflege selbst« begriffen werden könne.

 

Bemerkenswert ist, dass die Interpretation dieses historischen Bauwerkes, auf die man sich im Rahmen der UNESCO international hat ­einigen können, auch zwiespältige Aspekte nicht ausspart. Als Mischung aus Burg und geistlichem Konvent verkörpere die Marienburg »das Drama des spätmittelalterlichen Christentums, das zwischen den Extremen von Spiritualität und Gewalt eingespannt war«. Etwas zugespitzt könnte man sagen :  Natürlich war die Marienburg auch ein Ort knallharter Machtpolitik. Außerdem wird darauf hingewiesen, wie gut an ihrem Beispiel das Umschlagen einer Wertschätzung kulturellen Erbes in einen Einsatz von Kulturgütern »als Instrumente im Dienst politischer Ideologien« studiert werden kann. Damit ist vermutlich die Stilisierung der Marienburg zu einem Bollwerk deutscher Kultur im Kaiserreich gemeint, genauso aber auch ihre Indienstnahme als Vorbild für die Kaderschmieden des Nationalsozialismus, die als »Ordensburgen« bezeichnet wurden.

 

Mittlerweile sind Thorn und die Marienburg jedoch auch Gegenstand einer anderen, neueren Geschichte geworden. Das Protokoll der Komiteesitzung in Neapel aus dem Dezember 1997 gibt bereits einen Hinweis dazu :  »Nach der Eintragung der beiden Stätten in Polen«, so ist dort zu lesen, »gratulierte der deutsche Beobachter der polnischen Regierung zur Aufnahme der Stadt Toruń und der Burg in Malbork, die die gemeinsame Geschichte beider Nationen repräsentieren und ein konkretes Zeugnis des sich weiter verstärkenden Geistes der Zusammenarbeit und Freundschaft sind.«

 

Am engsten ist die kulturpolitische Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen jedoch inzwischen an anderer Stelle geworden, nicht im ehemaligen Westpreußen, sondern einige Hundert Kilometer südwestlich davon. Dort, in der Nähe von Görlitz, liegt der Muskauer Park, ein von Hermann Fürst von Pückler-Muskau angelegter Landschaftsgarten, im Polnischen »Park Mużakowski« genannt. Er erstreckt sich entlang beider Ufer des Flusses Neiße, die hier seit 1945 die Grenze zwischen Deutschland und Polen bildet. Mit der politischen Wende im Herbst 1989 kam es zuerst zu einem Partnerschaftsvertrag, in dem eine koordinierte Pflege des grenz­überschreitenden Gartens vereinbart wurde. Im Jahre 2004 wurde der UNESCO dann ein gemeinsamer deutsch-polnischer Antrag vorgelegt, den Muskauer Park als Welterbe anzuerkennen, was dann auch geschah. Kurz vorher war noch eine die Neiße überquerende Brücke wiederhergestellt worden, die nun die heute in Deutschland und Polen liegenden Teile des Parks neuerlich verbindet. Dieser Brückenschlag bildet einen vielversprechenden symbolischen Höhepunkt in der Entwicklung einer gemeinsamen kulturgeschichtlichen Verantwortlichkeit, die hoffentlich auch noch in anderen Bereichen produktiv weiterwirkt.

 

Erschienen in Heft 2/2017  

 



 

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