Interview

Vertriebene und Spätaussiedler –

Partner oder Konkurrenten?

Seit 2014 hat der Bund der Vertriebenen mit Bernd Fabritius den ersten Präsidenten, der nicht aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten oder dem Sudetenland vertrieben wurde, sondern aus Siebenbürgen stammt. Hiermit steht er stellvertretend für einen Wandel, der sich in den Strukturen der deutschen Vertriebenenorganisationen vollzieht: Standen in der Nachkriegszeit die unmittelbar Vertriebenen im Zentrum der Aufmerksamkeit, so sind es heute Spätaussiedler, die in der Verbandsarbeit zunehmend präsent sind und Führungsfunktionen übernehmen. So konstituierte sich 2015 auch innerhalb der CDU das »Netzwerk Aussiedler in der CDU Deutschlands«  neben der seit Jahrzehnten bestehenden christdemokratischen »Ost- und Mitteldeutschen Vereinigung«. Im Interview mit dem Westpreußen spricht der Vorsitzende des Netzwerks, Heinrich Zertik MdB, über das Verhältnis von Vertriebenen und Spätaussiedlern – über Unterschiede und gemeinsame politische Ziele. Die Fragen stellte Tilman Asmus Fischer.

Herr Zertik, seit Jahren engagieren Sie sich in der Vertriebenenpolitik und für die Integration russlanddeutscher Spätaussiedler. Wie erleben Sie das Verhältnis zwischen Vertriebenen und Spätaussiedlern?

 

Das Leid der Vertriebenen und das der Spätaussiedler gehören ja zusammen. Die Deutschen aus Russland gehören zur Schicksalsgemeinschaft der Heimatvertriebenen insgesamt. Sie haben nur eine etwas andere Geschichte, wie die Ostdeutschen alle eine andere Geschichte haben. Es gibt ja nicht »die« Vertriebenen. Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen ist eine ganz andere als die der Ostpreußen oder der Sudetendeutschen. Und auch die Russlanddeutschen haben ihre eigene Geschichte.

 

Vertriebene und Spätaussiedler haben in der gemeinsamen Herkunft aus unterschiedlichen Regionen Osteuropas eine verbindende Gemeinsamkeit – sind jedoch durch unterschiedliche historische Erfahrungen auf je eigene Weise geprägt. Wo sehen Sie vor diesem Hintergrund gemeinsame politische Ziele?

 

Was mich dabei vor allem antreibt, sind zwei Fragen: Zum einen geht es um die Gerechtigkeit für die Menschen, zum anderen geht es um die Bewahrung der kulturellen Identität. Das ist etwas, was die Vertriebenen insgesamt betrifft und wofür ich einstehe. Zur Gerechtigkeit gehört, dass das Schicksal anerkannt und bewusst gemacht wird. Wir sind hier auf einem guten Weg, aber noch längst ist nicht alles erreicht. Deswegen habe ich mich gemeinsam mit den Kollegen im Deutschen Bundestag für eine Entschädigung für deutsche Zwangsarbeiter mit Nachdruck eingesetzt. Da gab es eine Gerechtigkeitslücke, die geschlossen werden musste, das ist uns jetzt – leider sehr spät – gelungen. Die Frage der kulturellen Identität der deutschen Vertriebenen und Spätaussiedler ist eine Frage, die die Landesebene in besonderer Weise berührt, weil Kultur Ländersache ist. Wir müssen hier verstärkt mit der Landesregierung NRW ins Gespräch kommen, um der kulturellen Breitenarbeit wieder einen angemessenen Platz im Lande einzuräumen, und das ist gerade jetzt wichtig, wo die Landesregierung an einer Neukonzeption der Kulturarbeit der Vertriebenen arbeitet. Dafür will ich mich in Nordrhein-Westfalen verstärkt einsetzen. Auf Bundesebene ist es ja bereits gelungen, dass sich der Bund für die Förderung des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold einsetzt. Im Land muss uns das auch für die kulturelle Breitenarbeit gelingen.

 

In den letzten Jahren erleben wir intensivierte Bemühungen des Kremls und rechtspopulistischer Kreise, Spätaussiedler für sich zu vereinnahmen und zu manipulieren …

 

Die Politisierung des Falls Lisa hat gezeigt, dass es von russischer Seite aus Bemühungen gab, die öffentliche Meinung in Deutschland medial und politisch zu beeinflussen. Die Aufklärung des Falls hat deutlich gemacht, wie voreilig und unbegründet sich die Intervention in diesem Fall darstellte. Es ist schon eine ernst zu nehmende Entwicklung, wenn sich die russische Regierung in innere Angelegenheiten Deutschlands einmischt und im Verbund mit russischen Medien eine Minderheit unter den Russlanddeutschen in der Flüchtlingsthematik instrumentalisiert. Es ist ein Angriff auf die Demokratie und rechtsstaatliche Ordnung. Diese neue Dimension der Meinungsmache haben die deutschen Sicherheitsbehörden im Blick.

 

Was können Vertriebene und Spätaussiedler gemeinsam tun, diese Bestrebungen abzuwehren?

 

Viele Russlanddeutsche schauen eher deutsche Nachrichten als russische. Denjenigen, die russische Medien konsumieren, sage ich immer: Es ist wichtig, dass sie differenzieren. Medienvielfalt ist eine tolle und wichtige Errungenschaft, aber sie sollten Nachrichten vergleichen und den Unterschied zwischen Meldung und Einflussnahme sehen. Wir müssen durch politische Bildung die Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzen, Nachrichten von Propaganda zu unterscheiden.

Erschienen in Heft 4/2016  

 

Heinrich Zertik MdB (CDU) wurde 1957 in Kasachstan geboren und wanderte 1989 mit seiner Familie in die Bundesrepublik Deutschland aus. Seit 2013 ist er Mitglied des Deutschen Bundestages.

 

 

 

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