Wenn ein Monolog

 zum Dialog wird

 

Der Mythos „Danzig“ im Werk von Paweł Huelle

 

Von Joanna Bednarska-Kociołek

 

Am 10. September feiert Paweł Huelle seinen 60. Geburtstag. Dies ist ein trefflicher Anlass, diesen wichtigen Danziger Schriftsteller zu ehren und ihm für sein literarisches Œuvre Dank zu sagen.

 

Paweł Huelle, den polnischen Schriftsteller aus Gdańsk, habe ich einige Male persönlich erlebt. Die erste Begegnung vollzog sich 2005 bei einer Veranstaltung des Literarischen Colloquiums Berlin, bei der er aus ­seinem Roman Castorp las. Im anschließenden Gespräch erklärte der Autor, was für ihn der Begriff „Literatur“ bedeutet. Er meint, Literatur sei nicht nur eine Sammlung von Büchern, sondern auch ein Dialog zwischen ihnen.

 

Der Schriftsteller behauptet manchmal, dieses Flüstern der Bücher in der Bibliothek zu hören, was als Anspielung auf die unendliche, einem Labyrinth ähnelnde Bibliothek aus der Erzählung von Jorge Louis Borges Die Bibliothek von Babel (1941) zu verstehen ist. Im Feuilletonband Das verschollene Kapitel schrieb Huelle eine Skizze über Borges und seinen Atlas, der als Reisebeschreibung entstand, als der Schriftsteller schon blind war und frühere mit neuen Erfahrungen, die er als Blinder gemacht hatte, konfrontierte. Huelle bemerkt, Borges habe eine zutiefst innere Landschaft geschaffen, eine Landschaft von Erscheinungen, die sich unter dem Einfluss von Berührung, Gehör und Gedächtnis sowie durch Legenden, Mythen und Erzählungen im Bewusstsein des Schriftstellers einstellten. In Wirklichkeit existiere für Borges nur das, was wir in unserem Inneren besitzen. Huelle ist ein Schriftsteller, der, Borges durchaus verwandt, seine privaten autobiographischen Mythologien schafft. Auf diese Weise kreiert er mit Mitteln des magischen Realismus neben Günter Grass und Stefan Chwin den Genius Loci der Stadt Danzig/Gdańsk. Er kehrt mit seinen Werken in die verlorene Welt seiner Kindheit zurück, die er im Schreiben reflektiert und wiedererstehen lässt.

 

Gdańsk / Danzig – Wiederentdeckung

einer komplexen Geschichte

Paweł Huelle ist Autor von mehreren Romanen (Weiser Dawidek, 1987 ;  Mercedes-Benz, 2003 ;  Castorp, 2004) und von Erzählungen (Schnecken, Pfützen, Regen und andere Geschichten, 1996 ;   Silberregen, 2000), in denen er schildert, dass ­Danzig/ Gdańsk eine bemerkenswerte Stadt mit außergewöhnlicher Geschichte ist. Es lebten auf diesem Gebiet mehrere Jahrhunderte lang Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, Sprachen und Religionen, wodurch sich verschiedene Kulturen vermischten, in erster Linie die deutsche, polnische, jüdische und kaschubische, aber auch andere, da hier zudem Mennoniten aus Holland oder z. B. auch Russen wohnten. Ein solch hybrider Ort war damit selbstverständlich mehr als einmal Schauplatz verschiedener Auseinandersetzungen und Konflikte, doch zugleich wurde dieser Schmelztiegel zur Quelle einer interessanten und reichen Kulturmischung sowie einer sprachlich-kultureller Heterogenität, aus denen der Schriftsteller für sein Werk schöpft und die den Hintergrund für die Art bilden, in der er auf die deutsch-polnische Geschichte der Stadt eingeht.

 

Der Erstlingsroman von Huelle und zugleich sein berühmtestes Werk ist Weiser Dawidek, in dem er sich bewusst auf die Novelle Katz und Maus von Günter Grass bezieht. Die Tatsache, dass Grass seine Heimat verloren hat, in der Huelle seinerseits geboren wurde, empfand der polnische Schriftsteller als Herausforderung. Das Buch wurde von der polnischen Kritik als Meisterwerk der 1980er Jahre gefeiert. „Weiser“ wurde in mehrere Sprachen übersetzt, darunter von Renate Schmidgall ins Deutsche. Dawidek ist mutmaßlich ein jüdischer Junge, der die mysteriöse Vergangenheit der Stadt verkörpert. Er weiß, wer Artur Schopenhauer oder Ferdinand Gottlob Schichau waren. Er erzählt beispielsweise über die Verteidiger der Polnischen Post während des zweiten Weltkrieges. Der Erzähler macht sich Jahre nach dem rätselhaften Verschwinden Weisers auf die Suche nach ihm – und damit zugleich nach der geheimnisvollen Vergangenheit der Stadt. Es entsteht das Bild der Nachkriegsstadt Gdańsk. Wrzeszcz (Langfuhr), Bukowa Górka, der Wald, die Ostsee sind die Schauplätze. Die Orte, die für die Handlung dieses Romans wichtig sind, kommen später in Huelles anderen Romanen und Erzählungen auch immer wieder vor. Die Stadt steht im Zentrum des Buches und wird von den Kindern Schritt für Schritt entdeckt. Ihre Eltern sind hier nicht zu Hause, sie sind Nachkriegszuwanderer, die nach dem Krieg gezwungen wurden, ihre Heimatstädte – Lemberg oder Wilna – zu verlassen. Erst ihre Kinder versuchen, die fremde Stadt Gdańsk als Heimat zu akzeptieren. Für Huelles Protagonisten ist das private – und nicht das kulturelle – Gedächtnis von zentraler Bedeutung :  Ihr Wissen stammt in erster Linie nicht von der Schule, sondern wird durch eigene Erfahrung erworben. Sie lernen die Geschichte der Stadt von denen, die hier einst wohnten und nur als Geister zurückgeblieben sind. Die Jungen finden Spuren der deutschen Vergangenheit, wie zum Beispiel alte Gräber, deutsche Inschriften oder Patronenhülsen und müssen eine Antwort darauf finden, was die Kultur der deutschen Sprache und die deutsche Tradition für sie bedeuten. Das Private wird mit dem Öffentlichen hingegen nur selten konfrontiert.

 

Wiedererstehen einer verlorengegangenen Welt

Die meisten Erzähler in Huelles Werken sind ebenso wie derjenige aus „Weiser“, im Nachkriegspolen aufgewachsen. Dabei schimmert die kommunistische Diktatur nur selten durch. Zum Beispiel in der Erzählung Schnecken, Pfützen, Regen, in der der Vater zuerst seine Arbeit als Schiffsingenieur aus politischen Gründen verliert und dann Bahnsteige kehrt. Schließlich wird ihm auch diese Arbeit weggenommen und er verdient sein Geld als Sammler von Weinbergschnecken. Die kommunistische Realität ist sehr triste. Deswegen auch suchen Huelles Erzähler nach der Danziger Vielfalt von Kulturen, Sprachen und Nationen, die verlorengegangen ist. Die Aufgabe der Literatur ist für den Schriftsteller, den Mythos der Stadt auf eine solche Art und Weise zu beschreiben, dass sowohl Polen und Deutsche als auch Kaschuben und Mennoniten berechtigt sind, hier nach ihren Wurzeln und ihrer Identität zu suchen. So sind Geschichte und Kultur der Minderheiten in Danzig/Gdańsk und deren Umgebung für seine Erzählungen äußerst wichtig. Huelle interessiert sich dafür, wie die Minderheiten als Enklaven funktioniert haben. Welchen Einfluss hatten sie auf die kulturelle, politische und nationale Entwicklung der Stadt ?

 

In Danzig sind nach dem Krieg nur noch wenige Deutsche zurückgeblieben. Oft waren das durchschnittliche Menschen, denen man in der Nachkriegsstadt noch manchmal begegnet. Von Herrn Kosterke aus der Erzählung Schnecken, Pfützen, Regen, bei dem der Erzähler und sein Vater die gesammelten Schnecken abliefern, weiß man wenig. Er spricht mit hartem deutschen Akzent, wodurch er sich von den Stadtbewohnern unterscheidet. 1946 verlor er sein Bein, als er auf eine deutsche Mine getreten ist. Vor dem Krieg hatte er einen Kolonialwarenladen an der Ecke der Hubertusburger Allee und rauchte Zigaretten der Marke Vineta. In Weiser Dawidek erscheint auch der Laden Cyrsons, der in der Chrzanowskiego-Straße liegt. Dies muss der Laden von Herrn Kosterke gewesen sein, denn die Hubertusburger Allee heißt nach dem Krieg Chrzanowskiego-Straße. Herr Kosterke versteht sich selbst als Danziger. Durch seine Erzählung scheint die Zeit zurückgedreht, wobei die deutsche Vergangenheit der Stadt bedrängend wirkt. Beim Erzähler entsteht der Eindruck, als könnte er diese vergangene Welt mit eigenen Augen sehen :

 

Und plötzlich, wie durch die Berührung einer unsichtbaren Hand, begannen sich in der dünnen Luft der Holzbude die Zeit­ebenen zu vermischen, und der dunkle Geschäftsraum füllte sich mit dem Duft von Kaffee, Zimt, Ingwer, Muskat, mit dem Duft von Nelken und Moselwein, Herr Kosterke besaß wieder sein echtes Bein und stand hinter der blitzenden Theke aus Eichenholz […] – »Wie geht das Geschäft ?« […] Nicht so gut wie früher, denn seit die Braunhemden die Straßen unserer freien Stadt beherrschten, seit die Braunhemden den Senat und die Außenpolitik beherrschten, seit sie einen Zollkrieg mit Polen führten, gingen die Geschäfte nicht besonders. […] es werde eine schwere Zeit kommen für die Juden und Polen und alle anständigen Leute […]

 

Die Zeitebenen vermischen sich in dieser Passage. Man weiß nicht mehr, ob es Vergangenheit ist oder schon Gegenwart. In dieser magischen Welt duftet es nach Kaffee, Ingwer und Muskat.

 

Der Kontakt mit der deutschen Vergangenheit der Stadt intensiviert sich in der Erzählung Der Umzug. Greta Hofmann kann dort als Trägerin der deutschen Kultur gesehen werden. Die alte Danzigerin ist Klavierspielerin und sie pflegt keine Kontakte zu polnischen Nachbarn. Sie umgibt sich ausschließlich mit Gegenständen, die die Vergangenheit repräsentieren :

 

Da waren Leuchter aus Silber und Messing, Stöße von dicken Büchern und Noten, lose Blätter, Figurinen und Döschen aus Porzellan, Glasgefäße, Stoffe für Kleider, Garnrollen, steinerne Blumentöpfe, ein Paar Handschuhe, ein Spielzeugrechen, Damenhüte, Tassen mit und ohne Untertassen, Briefbeschwerer aus Lack und Bronze, die kleine Büste eines Mannes, eine silberne Zuckerdose, mehrere Fotographien in Rahmen, schließlich ein Wecker mit großer Glocke, einem Hämmerchen und einem abgebrochenen Zeiger.

 

Frau Greta spielt Wagner und erzählt dem polnischen Jungen von den Wagnerschen Vorkriegsfestspielen in der Waldoper. In ihrer Wohnung scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Aber die alte Danzigerin ist sich dessen bewusst, dass ihre Heimat schon zur Vergangenheit gehört. Frau Greta unterscheidet zwischen Danzig und Gdańsk. Sie identifiziert sich mit Danzig und kann sich in der Welt nach dem Krieg nicht zurechtfinden.

 

Kaschubische Urwelt und der Schatz der Stadt

Huelles Erzähler sind auch von der Landschaft der Kaschubei, den Sitten und Bräuchen sowie von den Menschen fasziniert, die dort lebten und leben. In der Kaschubei spielt die Handlung der Erzählungen Silberregen, Onkel Henryk und Rzepka-Depka. Die Kaschubei scheint symbolisch die Urwelt zu sein. Es ist eine irreale und vergangene Welt. Nur ihre Spuren haben sich erhalten. Es ist das Land des Mythischen und des Ursprünglichen, und das Land, in dem alles beginnt. Der Erzähler erfährt dabei von einer Ostsee-Legende, die die Identität des Ortes zu rekonstruieren hilft. Es wird beispielsweise eine kaschubische Geschichte erzählt, in der der Name der Halbinsel Hel erklärt wird. „Hela“ bedeutet die Hölle, weil die Hela-Bewohner Diener des Teufels waren. Einst brachten sie während starker Stürme falsche Wegweiser am Strand an. Gesunkene Schiffe waren für sie eine Quelle wertvoller Güter, und sie töteten alle Schiffbrüchigen. Huelle erinnert in seinen Werken an derartige kaschubische Legenden, die außerhalb der Kaschubei unbekannt sind. So verewigt er diese Welt, die sonst kaum mehr erreichbar ist.

 

Geradezu exemplarisch verdeutlicht Huelle die Struktur und die Funktion des Mythos Danzig schließlich in seiner symbolischen Erzählung Silberregen. Die drei Protagonisten sind ein in Danzig geborener Deutscher, ein im heutigen Weißrussland geborener Pole, der seit dem Kriegsende in Gdańsk wohnt, und ein Kaschube, der hier autochthon ist. Es verbindet sie ein Danziger „Schatz“, die in Danzig geprägten goldenen Münzen, die vom Vater des Deutschen zu einer Zeit, als noch die Freie Stadt Danzig existierte, in einer alten Kommode versteckt worden waren. Es handelt sich um Münzen, die in Danzig geprägt wurden. Wieder tritt somit der Genius Loci der Stadt hervor, der übernational, für eben diesen geographisch-kulturellen Raum spezifisch und unter besonderen historischen Umständen entstanden ist. Der Schatz, der die Vergangenheit der Stadt symbolisiert und der zunächst zur Auseinandersetzung, dann wieder zur Versöhnung führt, geht schließlich in der Motława (Mottlau) verloren. Aber die außergewöhnliche Freundschaft zwischen dem Polen, Deutschen und Kaschuben wird dadurch letztlich gefestigt – und wird selbst zu einem Schatz. Die goldenen Münzen sind ein Symbol für das, was in der Stadt von der Vergangenheit übriggeblieben ist, heute aber von durchschnittlichen Menschen nicht mehr gesehen wird – und ausschließlich von Schriftstellern in der Form des Mythos erzählt und begreifbar gemacht werden kann.

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Dr. Joanna Bednarska-Kociołek – Studium der Germanistik in Lodz, Berlin und Passau ;  seit 2011 Mitarbeiterin im Institut für Germanistik an der Universität Lodz. Regelmäßige Forschungsaufenthalte in Deutschland. Autorin der Monografie :  Danzig / Gdańsk als Erinnerungsort im Werk von Günter Grass, Stefan Chwin und Paweł Huelle (2016). Gegenwärtig verfolgt sie ein Habilitationsprojekt zum Thema :  „Transgenerationelles Trauma in der Literatur”.

 

 

 

 

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