Die Marienburg in Westpreußen –

ein europäischer Erinnerungsort

 

Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Erinnerung

 

Von Christoph Kienemann

 

Menschen nehmen ihre Geschichte nicht nur über Erzählungen wahr ;  auch historische Bauwerke spielen in der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit eine wichtige Rolle. So kann man auch in Westpreußen Orte finden, die für die deutsche Geschichte von herausragender Bedeutung sind. Die Marienburg ist einer dieser Orte, Danzig wäre ein anderer. Heute sind diese Orte zu Erinnerungsorten geworden, zu Orten, an denen das kollektive Gedächtnis einer Nation einen festen Bezugspunkt findet.

 

Erinnerungsorte besitzen für die Menschen eine besondere Bedeutung, haben einen Symbolwert und sollen den Menschen verraten, wer sie sind und zu welcher nationalen Gruppe sie gehören. Die Bedeutung von Erinnerungsorten wandelt sich allerdings mit den Jahren zwangsläufig, da sie immer an den Bedürfnissen der jeweiligen Gegenwart ausgerichtet ist. Während die Marienburg im 19. Jahrhundert noch als Ort der nationalen Konfrontation zwischen Deutschen und Polen galt, ist sie in der Gegenwart zu einem Symbol der europäischen Partnerschaft geworden, in dem die nationalistische Engführung der Geschichte überwunden erscheint.

 

Die Romantik formt den Erinnerungsort

Die Marienburg, die als größtes Backsteinbauwerk der Welt zwischen 1270 und 1300 am Ufer der Nogat entstand, ist ohne Zweifel ein Ort von erheblicher historischer Bedeutung. Die Ritter des Deutschen Ordens errichteten sie einst zur Sicherung ihrer Eroberungen, bauten die Burg bald zu ihrem Haupthaus aus und mussten sie später an den polnischen König Kasimir IV. Jagiello abtreten. Als Teil Polen-­Litauens wurde die Burg zu einem Verwaltungssitz und gelangte nach der ersten Teilung Polens im Jahre 1772 in den Besitz des preußischen Königs. An der Schwelle zum 19. Jahrhundert ändert sich die Rolle der Marienburg :  Die Burg ist nun nicht mehr nur ein Bauwerk, das administrativen Zwecken dient, sondern wird zu einem deutsch-­polnischen Erinnerungsort.

Bei der Übernahme im Jahre 1772 wusste Friedrich der Große nur wenig mit der Marienburg anzufangen. Als Verteidigungsbauwerk hatte die Burg schon lange ausgedient und genügte keinesfalls mehr den Ansprüchen an eine moderne Festungsanlage. Schon allein aus finanziellen Überlegungen mussten die preußischen Beamten aber eine Verwendung für die Burg finden, wenn sie nicht gleich ganz abgerissen werden sollte. Die Marienburg wurde daher in eine Kaserne umgewandelt. Vor der historischen Bausubstanz hatte man in Preußen keinen Respekt und fügte der Burg erhebliche Schäden zu, die teilweise noch heute zu erkennen sind. Als Anhänger der Aufklärung begegnete der König der Marienburg mit Geringschätzung. Doch schon bald nach seinem Tode änderte sich bei den Hohenzollern diese Grundhaltung. Nach der Besetzung Deutschlands durch die napoleonischen Truppen und den anschließenden Befreiungskriegen begann sich die Erinnerung an die Marienburg und die Ordensritter zu wandeln. Im Gegensatz zur Aufklärung war die Romantik fasziniert vom Mittelalter. Der Staat des Deutschen Ordens und seine Ordensburgen übten eine besondere Faszination auf die Romantiker aus. Doch Besucher wie der Maler Max von Schenkendorf (1783–1817) fanden die Marienburg in einem desolaten Zustand vor :  verwahrlost und durch eine profane Nutzung „entstellt“. Nachdem der junge Architekt Friedrich Gilly (1772–1800) Zeichnungen und Skizzen der Ordensburg angefertigt hatte und diese in der preußischen Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit erregten, sah König Friedrich Wilhelm III. von einem weiteren Abbruch der Burg ab. Schon bald begannen Restaurierungsarbeiten an der Ordensburg, die entscheidend mit der Person Theodor von Schöns, seit 1815 Oberpräsident von Westpreußen, verbunden waren. Von Schön avancierte zum Initiator des Wiederaufbaus.

Mit der Restaurierung der Marienburg begann sich die preußische Gesellschaft der Geschichte zu bedienen, um das Bauwerk als nationales Symbol zu nutzen. Aus der Marienburg sollte ein Nationaldenkmal werden, durch das der preußische Staat eine neue Selbstdefinition gewinnen sollte. Dafür musste aber an die Geschichte der Burg und an diejenige des Deutschen Ordens anders erinnert werden, als man es zuvor getan hatte. Schön selbst beschrieb diesen Wandel folgendermaßen :

Marienburg hatte ich vor dem Kriege 1806 zweimal in seiner tiefsten Erniedrigung gesehen, aber ich hatte es mehr als Curiosität, wie als Sprache des Himmels betrachtet. Im Jahr 1816 sah ich es wieder, und ich sah etwas anderes, als ich früher gesehen hatte.

Der Oberpräsident beabsichtigte, durch die Marienburg auf das Volk zu wirken, und demnach standen die 1817 beginnenden Restaurierungsarbeiten an der Ordensburg unter der Prämisse, ein deutsches National-Monument, ein deutsches Westminster, zu errichten. Die Ordensgeschichte sollte in einem ganz neuen Licht erstrahlen :  als historischer Vorläufer des preußischen Staates. Theodor von Schön ließ für dieses Ansinnen beispielsweise ein Fenster für den Großen Remter der Burg anfertigen, das einen Ordensritter aus der Zeit der Kreuzzüge und einen Landwehrmann aus den Napoleonischen Kriegen zeigte. In einem Brief an Friedrich Schinkel betonte von Schön :

Ohne deutschen Ordensritter zwar kein Kopernik, kein Kant, kein Herder und kein Dach und – kein Landwehrmann, aber die Blüte ist schöner als der Stamm und die Blume ist dem Himmel näher als die Wurzel.

Die Botschaft war klar :  die Geschichte des Deutschen Ritterordens und der Marienburg sollte als zukunftsgerichteter Auftrag an den preußischen Staat verstanden werden. Westpreußen erschien dabei als urdeutsches Gebiet, der Deutsche Orden als kulturell und zivilisatorisch den Polen weit überlegen, zudem als Wegbereiter Preußens. Der Untergang des Deutschordensstaates stellte man als nationale Kata­strophe, als Sieg der barbarischen Slawen über die zerstrittenen Deutschen dar.

Diese Interpretation der Geschichte, an der neben Theodor von Schön auch der Historiker Johannes Voigt (1786–1863) und der Dichter Joseph von Eichendorff mitwirkten, hatte derweil mit den historischen Fakten nur wenig zu tun. Keinesfalls war die Auseinandersetzung des Deutschen Ordens mit der polnisch-­litauischen Rzeczpospolita eine nationale Auseinandersetzung ;  hier trafen Vielvölkerstaaten aufeinander, in deren Heeren Soldaten unterschiedlichster Abstammungen gegeneinander kämpften. Auch die Ursachen für den Untergang des Ordensstaates gingen keineswegs in erster Linie von Polen-Litauen aus. Angesichts rapide sinkender Bevölkerungszahlen im Europa des 15. Jahrhunderts verfielen die Getreidepreise, was wiederum den Orden als großen Getreideproduzenten schwer traf. Insbesondere setzte dem Orden aber die Gründung des „Preußischen Bundes“ stark zu. Die Städte der Region – Danzig, Thorn, Elbing, Braunsberg  – stellten sich gegen die Ordensherrschaft, da sie ihre wirtschaftlichen Interessen durch den Orden bedroht sahen. Schließlich wandten sich die Mitglieder jenes Preußischen Bundes dem polnischen König zu. Er sagte ihnen großzügige Privilegien zu, die dann auch bis zur ersten Teilung Polens bestehen blieben.

Die deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts bezeichnete dieses Verhalten der Städte als Verrat an der deutschen Nation. Die Erinnerung an den Deutschen Orden, wie sie nach 1800 gepflegt wurde, sollte nunmehr die preußisch-­deutschen Ansprüche auf Westpreußen legitimieren, diejenigen des Gegners delegitimieren und natürlich die eigenen Anhänger mobilisieren. Keineswegs hatten die Preußen im Jahre 1772 im damaligen Königlichen Preußen begeisterte Preußen und Deutsche vorgefunden, die sich freuten, nun ein Teil des Hohenzollern-­Reiches zu werden. Viele Städte fürchteten das Ende ihrer Privilegien und die Konzentration der Regierungsgewalt im fernen Berlin. Mitnichten bedeutete die Annexion des Königlichen Preußen durch die Hohenzollern eine preußisch-deutsche „Wiedervereinigung“. Im Königlichen Preußen hatte sich ein Landesbewusstsein herausgebildet, das keine Anknüpfungspunkte zum Deutschen Orden hatte, sondern vielmehr im Freiheitskampf der preußischen Städte gegen den Orden begründet war. Dieses Landesbewusstsein vollzog damit auch eine Abgrenzung zum Herzoglichen Preußen, da es die polnischen Könige als Garanten für die Freiheit des Landes empfand. Nach der Annexion des Königlichen Preußen nahm Friedrich II. die Huldigung der Preußischen Stände in der Marienburg entgegen und brach durch diesen demonstrativen Akt mit jenem früheren preußischen Landesbewusstsein.

Deutsche und polnische Erinnerungskonzepte der Kaiserzeit

Die Stilisierung der Ordensritter zu Helden und „Vorkämpfern des Deutschtums“ erreichte nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 ihren Höhepunkt. Wiederum galt es im Reich, die eigenen deutschen Ansprüche auf Westpreußen, aber auch auf Posen zu begründen. In der Geschichte des Deutschen Ordens fand man dafür weiterhin die passenden Argumente :  Zivilisierte Ordensritter brachten den unzivilsierten Slawen im Osten Europas westeuropäische Kultur und gewannen damit die Ostmark für Deutschland. So lässt sich die Erinnerung an den Deutschen Orden nach 1871 zusammenfassen. Die Marienburg spielte dabei als zentraler Erinnerungsort eine wichtige Rolle. Kaiser Wilhelm II. nutzte die Ordensburg für die Vertiefung des deutsch-polnischen Gegensatzes. Die Geschichtspolitik der Zeit präsentierte die Marienburg verstärkt als ein Abbild des deutschen Staates, als Barriere zwischen deutscher Hochkultur und polnischer „Unkultur“. Nirgends wurde wohl die Inszenierung der Marienburg als Mythos so deutlich, wie auf dem Johanniter Ordensfest, das 1902 als offizieller Abschluss der durch Conrad Steinbrecht 1896 begonnenen Restaurierungsarbeiten abgehaltenen wurde. Als Höhepunkt dieses Spektakels, an dem über 1.000 Personen teilnahmen und dessen Hauptattraktion der Einzug einer Gruppe kostümierter Ordensritter darstellte, hielt Kaiser Wilhelm II. eine Rede über die besondere Bedeutung der Marienburg für die deutsche Nation. Wilhelm II. ging dabei auf die geografische Symbolik des Ortes ein :  die Marienburg hätte sich schon immer an der Grenze des Deutschen Reiches befunden, die zentrale Aufgabe des Ordens hätte stets an dieser Stelle gelegen. Der Kaiser und viele seiner Zeitgenossen waren der Meinung, dass die Marienburg bereits im Mittelalter ein Bollwerk gegen die Deutschtumsfeindlichkeit der Polen dargestellt habe und das Deutsche Reich nun den Abwehrkampf des Deutschen Ordens gegen die Slawen fortführen müsste. Dies spielte sich vor dem Hintergrund einer immer rücksichts­loseren Germanisierungspolitik des Deutschen Reiches in seinen östlichen Provinzen ab. Dagegen suchten sich die Polen mit der sogenannten Organischen Arbeit (praca organiczna) zur Wehr zu setzten, die auf eine Steigerung ihrer eigenen wirtschaftlichen und intellektuellen Potentiale zielte.

Allerdings machten sich nicht nur die Deutschen ein verzerrtes Bild von der Geschichte des Deutschen Ordens. Auf polnischer Seite entwickelte sich ein extrem negatives Bild von den Ordensrittern, und das Stereotyp der Kreuzritter wurde zum Inbegriff der Deutschen schlechthin. Den Ordensrittern wurde in vielen literarischen Darstellungen eine „germanische Aggressivität“ zugeschrieben. Der bedeutende polnische Historiker Joachim Lelewel (1786–1861) setzte den Orden in seiner „Polnischen Geschichte“ mit einer Macht der stetigen Unterdrückung durch die Deutschen gleich. In Polen waren also – nur spiegelverkehrt – die gleichen Mechanismen am Werk wie in Preußen und im Deutschen Reich. Die Vergangenheit wurde den Erfordernissen einer Gegenwart unterworfen, die sich auf einen nahezu „naturgegebenen“ deutsch-polnischen Gegensatz berief. Dieser Antagonismus fand in der Geschichte selbst aber keine Begründung, sondern resultierte vor allem aus der Realpolitik des 19. Jahrhunderts. So setzten polnische Historiker und Publizisten die Ordensritter ebenfalls mit den Preußen der damaligen Gegenwart gleich. Vor allem das populäre Genre des historischen Romans bediente sich des negativen Kreuzritterbildes. An dieser Stelle sei insbesondere der 1898 erschienene Roman Krzyżacy des nachmaligen Literaturnobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz (1846–1916) genannt, der ab 1918 sogar zur Pflichtlektüre im Polnischunterricht wurde. Vielleicht noch wirkmächtiger im historischen Bewusstsein der Polen wurden die monumentalen Gemälde Jan Matejkos (1838–1893). Die Schlacht bei Tannenberg (Bitwa pod Grunwaldem) von 1878 gehörte zur Dauerausstellung der Warschauer Galerie Zachęta und zog die Besucher in ihren Bann. In der Zeit des Kulturkampfes und der Germanisierungspolitik des Deutschen Reiches verstärkte sich die Gleichsetzung von Ordensrittern, Preußen und Deutschen in der polnischen Öffentlichkeit immer mehr. In der Epoche der Teilungen ermöglichten die Ordensritter zugleich die Rückbesinnung auf eine glorreiche Vergangenheit, in der – auf die anachronistische moderne Vorstellung von „Nationen“ übertragen – Polen gegen Deutschland militärisch erfolgreich gewesen war. Nicht zuletzt dieser Bezug auf einen seit Jahrhunderten währenden deutsch-polnischen Gegensatz verhalf den Polen in den Teilungsgebieten zur Entwicklung einer gemeinsamen Identität.

Auf dem Wege zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur

Die konträre „Besetzung“ der Marienburg und des Deutschen Ordens mit nationalen, von politischen Interessen geleiteten Vorstellungen hatte für Alternativen kaum noch Raum gelassen. In Deutschland verblassten diese Feindbilder erst allmählich nach dem Zweiten Weltkrieg, in Polen sogar erst nach 1989. Autoren wie Günter Grass, Johannes Bobrowski oder Horst Bienek präsentierten in ihren Werken eine andere Lesart der Geschichte und eröffneten Perspektiven auf eine zwar geteilte, aber doch gemeinsame Geschichte von Deutschen und Polen. In Polen ist das negative Kreuzritter-Stereotyp als Kennzeichnung für die Deutschen ebenfalls immer mehr aus den öffentlichen Debatten verschwunden. In der Marienburg konnte bereits seit den 1960er Jahren ein Museum entstehen, das inzwischen einen europäischen Erinnerungsort darstellt. Hier wird die Geschichte der Burg und des Deutschen Ordens musealisiert, während auch die Bevölkerung der Stadt Marienburg die gemeinsame Geschichte als Teil ihrer Vergangenheit akzeptiert hat. In Thorn befürworteten 60% der Einwohner eine Initiative der Stadtverwaltung, ein Denkmal für die Ordensritter Hermann von Salza und Hermann von Balk zu errichten, die als Stadtgründer von Thorn gelten. Ein Vorgang, der über viele Jahrzehnte sicherlich undenkbar gewesen wäre. So gehört heute auch die Geschichte des Deutschen Ordens zum nationalen Bewusstsein der Polen. Die Marienburg ist zu einem transnationalen Erinnerungsort geworden, der Platz bietet für verschiedene Zugänge zur Geschichte, für Erinnerungen, die sich gegenseitig nicht mehr ausschließen, sondern sich wechselseitig ergänzen und respektieren können.     ■

 

Dr. des. Christoph Kienemann M. A. — Historiker und Journalist, studierte Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaften in Oldenburg, Thorn und Warschau. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die deutsche Kolonialgeschichte, die moderne Mythenforschung sowie die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte.

 

 

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